Wütende Bauern, machtlose Behörden
Wolfsplage im Bündner Oberland

Im Bündner Oberland wütet der Wolf. Immer mehr Bauern verlieren ihre Tiere an das Raubtier. Mittlerweile seien auch die Menschen gefährdet, sagen die Landwirte. Beim Kanton kennt man die Problematik, kann aber kaum etwas dagegen unternehmen.
Publiziert: 03.06.2020 um 10:23 Uhr
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Aktualisiert: 03.06.2020 um 16:36 Uhr
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Der Wolf. Für viele eine Freude zum Anschauen, für die Bauern im Kanton Graubünden aber eine Plage.
Foto: keystone-sda.ch
Fabian Vogt

Immer öfter surren und summen die Mobiltelefone im Bündner Oberland. Immer seltener reagieren die Menschen vor Ort mit Freude darauf. Denn die Nachrichten, die sie erhalten, lauten zum Beispiel so: «Lumnezia/Vrin: Letzte Nacht wurden 5 ungeschützte Schafe bei der Ortschaft Vrin durch Wolf/Wölfe gerissen».

Laut Zahlen des Kantons Graubünden wurden dieses Jahr bisher rund vierzig Risse von Schafen und Ziegen erfasst. Die inoffiziellen Zahlen sind noch um ein Vielfaches höher, denn gezählt wird nur, was zweifelsfrei als Wolfsriss ausgewiesen werden kann. Was nicht so einfach ist, wenn Kadaver an der prallen Sonne liegen – der Verwesungsprozess setzt schnell ein. Die Bauern sind ratlos, wütend. Sie fühlen sich von den Behörden im Stich gelassen. Mit Schockbildern von abgerissenen Schafsköpfen und toten Lämmern machen sie deshalb in sozialen Medien auf das Tier aufmerksam, das für sie zur Plage geworden ist.

Vom Wolfspaar zur Wolfsplage

Sie tragen keine Namen, nur Nummern: 2011 fanden das Weibchen F7 und der Rüde M30 am Calanda zusammen. Sie waren vom Wallis her eingewandert. Ein Jahr darauf gab es Nachwuchs. In der Schweiz gab es damit erstmals seit 150 Jahren wieder ein Wolfsrudel, was im Hoch- und Flachland mit Freude registriert wurde. Die Wölfe vermehrten sich allerdings weiter. 2018 gab es ein zweites Wolfsrudel. 2019 ein drittes. Derzeit gibt es laut den Behörden rund 35 Wölfe in Graubünden, die meisten davon im Oberland. Und mit jedem von ihnen steigt die Gefahr für die Nutztiere der Bauern.

Martin Keller ist Bauer in Lumbrein. Mit rund 300 Schafen ging er zu Beginn des letzten Sommers auf die Alp da Pitasch oberhalb von Ilanz. Mit knapp 240 Tieren kam er im Herbst wieder runter. «Zehn Jahre bin ich nun schon dort oben», sagt Keller zu BLICK. «Normalerweise verliere ich pro Jahr ein bis zwei Schafe. Dieses Jahr waren es 59!»

Dies verursachte ihm einen finanziellen Schaden von mehreren Zehntausend Franken – und einen grossen Reputationsverlust. Denn die anderen Landwirte haben jetzt keine Lust mehr, ihre Tiere auf die Alp zu lassen. «Die meisten der getöteten Schafe gehörten nicht mir. Viele Bauern wollen nun abwarten und schauen, wie dieser Sommer wird.» Die toten Tiere ersetzt habe ohnehin fast niemand, «aus Angst, dass sie gleich wieder abgeschlachtet werden».

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Von der Alp in die Dörfer

Doch mittlerweile ist das Vieh auch in den Dörfern nicht mehr sicher. Angriffe auf geschützte und ungeschützte Herden in Siedlungsgebieten werden häufiger. Der Wolf scheint mutiger zu werden, je grösser seine Zahl wird. Das trifft auch auf die Wahl seiner Ziele zu: Mehrere Bauern erzählen BLICK, dass Mutterkuh-Herden von Wölfen aufgescheucht worden seien. «Vor wenigen Tagen wurde ich mitten in der Nacht mit der Nachricht aufgeweckt, meine Kälber seien im Dorf und die Kühe würden nervös am Zaun stehen», erzählt Erwin Sax aus Obersaxen GR. «So ein Verhalten meiner Tiere habe ich in 17 Jahren nicht erlebt.»

Von kurz vor Mitternacht bis 5.30 Uhr morgens hätte er mit fünf Kollegen die ausgebüxten Tiere einfangen müssen. Sax glaubt, dass ein Wolf dafür verantwortlich ist: «Ich kann es zwar nicht beweisen, aber vermute stark, dass einer durchlief und die Tiere erschreckte.»

Sein Kollege Gionin Caduff (56), Mutterkuhhalter aus Vattiz GR, befürchtet, dass nun auch Hirten, Wanderer, Biker und ihre Hunde gefährdet sind. Die Tiere würden nach der Bekanntschaft mit einem Wolf völlig unvorhergesehen reagieren. Mit 40 anderen Bauern hat er deshalb im Februar einen Brief an Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga verfasst. Er möchte, dass sich Bundesbern der Thematik annimmt. Die Worte sind deutlich. Im Brief ist zu lesen, dass eine Mutterkuhherde nach einem Wolfsangriff derart in Rage geraten könne, dass sie einer Lawine gleich alles niedertrampeln würde, was sich ihr in den Weg stelle. Für Caduff ist daher klar: «Der Wolf gehört abgeschossen.»

Kanton zeigt Verständnis

Adrian Arquint, Verantwortlicher Leiter des Amts für Jagd und Fischerei im Kanton Graubünden, hat Verständnis für die Sorgen der Bauern, relativiert aber: «Wie gross die neue Gefahr ist, wissen wir nicht. Es ist für alle eine neue Situation. Klar ist aber, dass der Wolf immer noch eine geschützte Tierart ist, die aus ökologischer Sicht eine Bereicherung der Biodiversität darstellt.

Zudem ist er an die Vorgaben der aktuellen Rechtslage gebunden. Diese besagt, dass ein Wolf erst geschossen werden darf, wenn er eine bestimmte Zahl von Nutztieren in geschützten Herden – entweder von einem Herdenschutzhund bewacht oder von Elektrozäunen umgeben – getötet hat.

«Uns sind die Hände gebunden»

Die meisten Wolfsrisse seien aber in Herden passiert, die ungenügend geschützt gewesen seien. Arquint hofft deshalb, dass die Bevölkerung im Herbst das revidierte Jagdgesetz annimmt. Bis dahin kann er nur beschwichtigen: «Uns sind die Hände gebunden. Wir sehen auch mit Sorge, dass gewisse Wölfe den Respekt vor dem Menschen zu verlieren scheinen. Einzelne Wölfe überwinden auch die von den Landwirten getroffenen Schutzmassnahmen. Dem gilt es mit geeigneten Instrumenten entgegen zu wirken.»

Für Gionin Caduff sind das Hinhaltetaktiken. Die Tiere seien nur im Stall vollständig geschützt, allerdings sei es unmöglich, sie 24 Stunden dort einzusperren. Mit solchen Aussagen wolle der Kanton sich daher rausreden, um die Problematik klein zu halten und kein Geld für die Tiere bezahlen zu müssen. Caduff hat deshalb vorübergehend das Betreten seiner Weiden verboten. Er könne für die Sicherheit der Menschen nicht mehr garantieren. Mit jedem Summen des Telefons etwas weniger.

Darum geht es beim Jagdgesetz

Eigentlich hätte im Mai über das revidierte Jagdgesetz abgestimmt werden sollen, wegen Corona wurde dies aber auf den 27. September verschoben. Im Gesetz geht es hauptsächlich um den Wolf. Da dessen Bestand sich in den letzten Jahren enorm erhöht hat, sind die bisherigen Instrumente für den Schutz von Mensch und Tier nicht mehr ausreichend, sagen die Befürworter. Bisher entschied der Bund über Abschüsse. Würde das Gesetz angenommen, bliebe der Wolf geschützt, Kantone dürften Wölfe aus Rudeln aber neuerdings (unter bestimmten Bedingungen) erschiessen, bevor sie Schaden anrichten. Damit sollen Wölfe die Scheu vor Menschen, Herden und Siedlungen bewahren. Gleichzeitig würden Bauern verpflichtet, ihre Tiere besser zu schützen. Gegner des Gesetzes sagen, dass es über das Ziel hinausschiesse und andere Tiere ebenfalls in Gefahr gerieten, weil der Bundesrat danach selber entscheiden könnte, welche geschützten Tiere (aktuell nur Steinbock und Wolf) geschossen werden dürfen. (vof)

Eigentlich hätte im Mai über das revidierte Jagdgesetz abgestimmt werden sollen, wegen Corona wurde dies aber auf den 27. September verschoben. Im Gesetz geht es hauptsächlich um den Wolf. Da dessen Bestand sich in den letzten Jahren enorm erhöht hat, sind die bisherigen Instrumente für den Schutz von Mensch und Tier nicht mehr ausreichend, sagen die Befürworter. Bisher entschied der Bund über Abschüsse. Würde das Gesetz angenommen, bliebe der Wolf geschützt, Kantone dürften Wölfe aus Rudeln aber neuerdings (unter bestimmten Bedingungen) erschiessen, bevor sie Schaden anrichten. Damit sollen Wölfe die Scheu vor Menschen, Herden und Siedlungen bewahren. Gleichzeitig würden Bauern verpflichtet, ihre Tiere besser zu schützen. Gegner des Gesetzes sagen, dass es über das Ziel hinausschiesse und andere Tiere ebenfalls in Gefahr gerieten, weil der Bundesrat danach selber entscheiden könnte, welche geschützten Tiere (aktuell nur Steinbock und Wolf) geschossen werden dürfen. (vof)

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