Den Engadinern sitzt der Schock wohl noch in den Knochen. Am Freitagabend ging oberhalb von Lavin GR ein massiver Felssturz ab.
20'000 bis 30'000 Kubikmeter Gestein lösten sich an der Flanke vom Linard Pitschen und donnerten ins Tal. Die Felsen blieben bei der Alp d'Immez liegen – die grössten Brocken messen bis zu 60 Kubikmeter.
Fallwind trug Staubwolke ins Dorf
Nach dem Felssturz wurde es dunkel im Bergtal. Der aufgewirbelte Staub sorgte für eine enorme Wolke, die sich durchs Val Lavinuoz zog. Sogar das Bergdorf Lavin am Talausgang wurde von einer Millimeter dicken Staubschicht belegt. «Dazu führte die sehr trockene Schutthalde», erklärt Martin Keiser (34) vom Amt für Wald und Naturgefahren Graubünden. «Durch den Abbruch verkleinerten sich die verschiedenen Gesteinstypen stark. Die Fallwinde trugen den Staub dann ins Tal.»
Der Vorsitzende der örtlichen Gefahrenkommission kennt das Gebiet am Linard Pitschen gut: «Schon länger gibt es dort mehrere Abbruchstellen und Risse im Felsen.» Er erklärt: «Das Eis im Fels schmolz. Anschliessend füllten die Gewitter der letzten Tage und das Schmelzwasser diese Risse mit Wasser, was zum Felssturz führte.»
Weitere Nachstürze befürchtet
Noch geben die Experten keine Entwarnung. Bei einem Kontrollflug am Samstag stellten sie fest, dass weiteres Gestein lose ist. «Wir erwarten neue Nachstürze», so Keiser. «Mehrere Tausend Kubikmeter sind instabil. Auch gestern Sonntag gab es Abbrüche.»
Das Val Lavinuoz östlich vom Linard Pitschen bleibt deshalb zur Sicherheit gesperrt – für mindestens zwei Wochen. Die Mitarbeiter vom Amt für Wald und Naturgefahren und der Gemeindeführungsstab in Zernez GR beurteilen die Lage erst dann neu.
Das aktuelle Gefahrengebiet reicht von der Alp Dadoura (1778 m ü. M.) am Taleingang über die Alp d'Immez (1449 m) bis hoch zur SAC-Hütte Chamanna Marangun (2025 m). Die Wanderwege innerhalb der Zone sind gesperrt.
Hirten und Wanderer evakuiert
Während dem Felssturz hielten sich elf Menschen bei der SAC-Hütte auf, darunter sechs Kinder. Sie sind wohlauf und wurden von der Heli Bernina in Sicherheit gebracht. Auch die beiden Hirten der Alp Dadoura sind ausser Gefahr.
Das aktuelle Ereignis erinnert an den tragischen Bergsturz von Bondo GR, der sich am 23. August jährt. Mehr als drei Millionen Kubikmeter Fels donnerten ins Tal, acht Wanderer kamen ums Leben. Schon damals führten tauender Permafrost und der Druck von Wasser im Gestein zum Abbruch.