Schon die barocke Fassade des Bischöflichen Schlosses in Chur GR mit seinen hohen Holztoren und den bronzenen Türklopfern in Form von Löwenköpfen ist beeindruckend – der perfekte Ort, so scheint es, für einen Schatz. Im Empfangsbereich des Museums hört man die Glocken der nahe gelegenen Kathedrale St. Mariä Himmelfahrt, dem früheren Zuhause des Domschatzes. Durch eine grosse goldene Schiebetür betritt der Besucher die Schatzkammer, also den Museumsraum.
Seit dem Jahr 451 beherbergt das Bischöfliche Schloss in Chur den Bischof und die Verwaltung des ältesten Bistums nördlich der Alpen. Von dieser 1500-jährigen Geschichte des Bistums Chur erzählt das neue Domschatzmuseum, das nun erstmals einen Teil des Gebäudes für die Öffentlichkeit zugänglich macht. Das Schloss liegt nämlich direkt neben der Kathedrale, von wo der Schatz ursprünglich stammt. Statt Kathedralschatz sagt man aber Domschatz, das klingt besser und sagt das Gleiche. Entworfen wurde das Museum von den Churer Architekten Rudolf Fontana und Gion Signorell.
Immer noch in Gebrauch
Viel Gold, Silber und Edelsteine glänzen einem aus dem Ausstellungsraum entgegen, so wie man es bei einem Schatz erwarten darf. Doch dieser Schatz ist mehr als nur ein Haufen altertümlicher Kostbarkeiten. Wie Kuratorin Anna Barbara Müller (48) erklärt, unterscheidet sich ein Domschatz wesentlich von anderen Museumsobjekten: «Es ist anders als beispielsweise bei römischen Münzen – mit denen könnte man heute nicht mehr bezahlen. Die liturgischen Gegenstände hier kann man aber immer noch verwenden.» So ist das knapp eineinhalb Meter hohe Triumphkreuz neben dem Eingang noch heute fester Bestandteil der jährlichen Ostermesse. «Natürlich haben wir für das Museum nur Stücke genommen, die nicht ständig in Gebrauch sind», sagt Müller. «Das gäbe ein zu grosses Hin und Her.» Die Vorstellung, dass viele der Stücke noch heute einen Verwendungszweck haben und den Museumsraum regelmässig verlassen, lässt sie auf eigentümliche Weise lebendig erscheinen.
Der Domschatz ist nicht nur immer noch in Gebrauch, er besteht auch aus sehr unterschiedlichen Objekten, die teils weit gereist sind: Ein aufwendig besticktes Priestergewand stammt zum Teil aus Italien, zum Teil wohl aus dem arabischen Raum. Die Büste des heiligen Plazidus, in der ein Stück Knochen aufbewahrt wird, aus einer Konstanzer Goldschmiede. Und ein Kästchen aus vergoldetem Kupferblech ist mit typisch irischen Mustern verziert. Über seinen Zweck ist man sich übrigens bis heute nicht einig: War es ein Reliquiar, also ein Aufbewahrungsgefäss für Reliquien, oder befanden sich darin die Hostien?
Die Entstehungszeit der Objekte erstreckt sich vom 4. bis ins 20. Jahrhundert. Eines der ältesten Stücke, der Liebling der Kuratorin, ist ein Arzneikästchen aus der Römerzeit, das später zu einem Reliquiar umfunktioniert wurde. Sie schmunzelt: «Wahrscheinlich fand man die kleinen Fächlein ganz praktisch.» Dass eine ursprüngliche Medizinkassette, auf dem der römische Gott der Heilkunst abgebildet ist, als Reliquienbox endete, sieht Müller als Beweis für den fliessenden Übergang von der römischen in die christliche Kultur.
Einen weiteren, ganz anderen Teil der Ausstellung bilden die Churer Todesbilder aus dem Jahr 1543. Die nach den Holzschnitten von Hans Holbein dem Jüngeren gefertigten Bilder werden im ehemaligen Weinkeller des Schlosses ausgestellt und zeigen verschiedene Stände, die mit dem Tod tanzen. Die Botschaft der Memento mori: Du weisst nie, wann dich der Sensenmann holt.
Unsichtbar, aber unvergessen
Sowohl der Domschatz als auch die Todesbilder wurden lange Zeit zwischen der Kathedralsakristei, dem Rätischen Museum und einem Schutzraum für Kulturgüter hin- und hergereicht. Die Idee für ein Domschatzmuseum entstand zwar schon 2002, als die Renovationsarbeiten an der Kathedrale begannen, doch die Umsetzung verzögerte sich bis ins Jahr 2017. Andere Projekte waren offensichtlich wichtiger, zum Beispiel der Bau einer Tiefgarage. Erst mit dem neuen Museum erhalten der Schatz und die Bilder nun endlich wieder den Platz, der ihnen zusteht.
Teile des Domschatzes verlieh man zwischenzeitlich an internationale Ausstellungen, unter anderem in Frankreich und Deutschland, doch in seiner Vollständigkeit konnte er in den 18 Jahren seit Beginn der Kathedralrestaurierung nicht mehr bestaunt werden. Die Bilder waren seit 1981 nirgends mehr zu sehen. Vergessen wurden diese Kostbarkeiten deshalb aber nicht: Müller erzählt, dass die ältere Generation den Domschatz noch aus der Sakristei der Kathedrale kannte und die Todesbilder aus dem Rätischen Museum, wo sie bis in den 1970er-Jahren gezeigt wurden: «Die Leute fragten oft: Wann werden die endlich wieder ausgestellt?»
Für die Kuratorin, die Mittelalterarchäologie und Kirchengeschichte studiert hat, war es ein Glücksfall, dass sich die Planung des Museums verzögerte, denn so konnte sie trotz Kinderpause dabei sein. Seit ihrer ersten Arbeitsstelle im Rätischen Museum in Chur macht es ihr Spass, geschichtliches Wissen weiterzugeben. Bei der Ausstellung des Domschatzes ist es ihr wichtig, die allgemein negative Sicht auf die Kirchenwelt und Kirchenschätze zu verändern. Statt als Symbol für Gier und Ausbeutung sieht sie die Schätze als etwas, in dem die Menschen Freude und Trost finden und woran sie glauben konnten: «Glaube ist wichtig, auch heute noch.» Oder man könnte sagen: gerade heute.
«Etwas für jeden»
Ab diesem Jahr sind der Domschatz sowie die Todesbilder nun wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Während sie für die lokale Bevölkerung ein Stück Heimat bedeuten, hofft die Kuratorin, dass die bedeutsamen Kulturgüter auch zum Touristenmagnet werden. Generell gebe es im Domschatzmuseum «für jeden etwas zu sehen», betont Müller, ob Einheimischer oder Tourist, «ob religiös oder nicht».
Wenn es um die Besucherzahlen geht, ist die Kuratorin optimistisch. Im Jahr 2019 hatte die Churer Kathedrale bis zu 1500 Besucher am Tag. Das ist vielversprechend, denn einen Besuch der Kathedrale kann man gut mit dem des Museums kombinieren. Ausserdem wurde das Domschatzmuseum in die App von Chur Tourismus integriert. Diese vom Churer Tourismusbüro organisierten Stadtrundgänge waren, nach eigenen Angaben, auch dieses Jahr fast immer ausgebucht.
Nun hat der Domschatz endlich ein würdiges Zuhause. Trotzdem ist er weiterhin viel unterwegs. Ausser bei Kirchenzeremonien werden einzelne Stücke auch wie schon früher an andere Museen verliehen. Den bronzenen Kreuzfuss aus dem 12. Jahrhundert zum Beispiel hätten sie nächstes Jahr gern in Magdeburg. Der Domschatz wird also auch in Zukunft gebraucht und bleibt so lebendig.