Endlich ist Lorenzo Vinciguerra (49) in der Schweiz gelandet. Heute Morgen konnte er seine Liebsten am Flughafen Zürich in die Arme schliessen. Der Tierpräparator trat nach der Landung in Kloten kurz vor die Presse.
Lorenzo Vinciguerra erzählte erstmals von seiner Flucht. «An meinem Geburtstag im November habe ich mich entschieden: Ich muss hier raus.» Er habe keine dritte Weihnachten auf Jolo und ohne seine Familie verbringen wollen.
Eine günstige Gelegenheit ergab sich, als Abu-Sayyaf-Mitglieder eine Hochzeit gefeiert hätten. Er und eine andere Geisel wurden weniger gut bewacht als sonst. Deshalb wollte er es versuchen.
Kampf Mann gegen Mann
Doch kaum geflüchtet, hat ihn ein Bewacher entdeckt. Mit einem Sturmgewehr wollte ihn dieser zur Rückkehr zwingen. Doch das Gegenüber von Lorenzo Vinciguerra war kleiner als er und gegen 60 Jahre alt. Deshalb kämpfte der Schweizer.
«Ich habe mit meiner Handkante gegen seine Gurgel geschlagen. Aber ich wollte ihm nicht weh tun, ich wollte nur nach Hause», erzählt er. Der Bewacher ist überrascht und beginnt zu schiessen. Zum Glück kann er sich mit dem langen Lauf nicht so schnell drehen. «Er schoss nur in den Boden», erzählt Lorenzo Vinciguerra Der Schweizer kann den heissen Lauf fassen, verbrennt sich aber.
«Er war nicht so zögerlich wie ich»
«Dann trat ich ihn zwischen die Beine und biss ihn in die Hand.» Dabei geht der Gegner zu Boden. «Ich nahm mein Buschmesser und schlug in seinen Nacken. Aber nicht so fest, ich wollte ihn ja nicht verletzten. Dennoch habe ich das Blut gespürt.»
Dann will Vinciguerra dem Bewacher noch das Gewehr entreissen. Das gelingt zwar, doch dabei verliert er seine Machete an seinen Gegner. «Er war nicht so zögerlich wie ich.» Der Bewacher schlitzt dem Schweizer die Wange auf. «Das waren meine Zähne.» Drei Stück verliert er.
Schnellstmöglich wirft Vinciguerra das Gewehr in den Busch und verschwindet im Wald. Der Bewacher findet das Gewehr wieder und schiesst dem Schweizer hinterher. Doch dieser ist schon im Unterholz verschwunden.
Terroristen wollten ihn wieder einfangen
«Ich kroch auf allen Vieren. Es war dunkel, ich blutete und ich hatte meine Brille verloren.» Lorenzo Vinciguerra fällt in einen Bach, wartet im Wasser. Angst steigt in ihm auf, als er hört, wie immer mehr Terroristen auf Motorrädern herannahen. «Sie suchten nach mir. Eine ganze Schwetti.» Doch die Flucht gelingt schliesslich!
Vinciguerra ist immer noch sichtlich gezeichnet von den Ereignissen. Nebst den verlorenen Zähne und der Mega-Schramme im Gesicht ist er auch sichtlich abgemagert. Für seine Erklärung vor den Medien musste er sich deshalb setzen. Er freue sich nun aber auf seine Familie. «Ich muss so viel nachholen. Ich habe so viel verpasst.»
Kein Lösegeld bezahlt
Fragen an ihn konnten die Journalisten heute Morgen keine stellen. Ralf Heckner, Leiter des Krisenmanagement-Zentrum des Bundes, betonte: «Es ist kein Lösegeld bezahlt worden. Es war eine authentische Flucht.»
Das Eidgenössische Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA) bat die Medienvertreter, «das Ruhebedürfnis und die Privatsphäre der ehemaligen Geisel und ihrer Nächsten zu respektieren». Für das Opfer, seine Familie und sein Umfeld sei die Entführung ein traumatisches Ereignis, dessen Verarbeitung viel Zeit in Anspruch nehme.
Fast drei Jahre in Geiselhaft gewesen
Fast drei Jahre hatte Vinciguerras Geiselhaft gedauert. Am 1. Februar 2012 wurde der Tierpräparator aus Grub SG auf der philippinischen Inselgruppe Tawi-Tawi von Extremisten der Rebellenorganisation Abu Sayyaf entführt und als Geisel gefangen genommen.
Am letzten Samstag, nach 1039 Tagen der Ungewissheit, dann die erlösende Nachricht: Lorenzo Vinciguerra ist frei!
«Wir sind sehr froh, dass mein Mann endlich frei ist», sagte seine Frau Yvonne (43) vergangenes Wochenende zu SonntagsBlick. Auch für die zwei kleinen Kinder (7 und 8) sei die Zeit sehr schwierig gewesen. «Endlich haben sie ihren Papi zurück.» Nun brauche die Familie «vor allem Ruhe, um alles zu verarbeiten.»
Philippinos erzählen andere Version von der Flucht
Laut den Philippinischen Behörden habe der Schweizer während eines Schusswechsels zwischen den Rebellen und Regierungstruppen entkommen können. Fünf Rebellen seien bei der Offensive getötet worden, gab das Militär bekannt.
Davon hat Lorenzo Vinciguerra in der heutigen Pressekonferenz nichts erzählt. Laut Berichten in den philippinischen Medien soll Lorenzo Vinciguerra seiner Bewacher angeblich auch getötet haben. Dem widerspricht der Tierpräparator mit seiner Version der Geschichte.
Leidensgenosse immer noch gefangen
Der St. Galler Lorenzo Vinciguerra war als Vogelkundler im Februar 2012 zusammen mit dem Holländer Ewold H. in die abgelegene Provinz Tawi-Tawi gereist, um einen seltenen Nashornvogel zu fotografieren.
Bewaffneten kaperten das Boot der beiden und übergaben sie später der radikalislamischen Gruppe Abu Sayyaf. Die Geiseln wurden auf der Insel Jolo in der Unruheregion rund 1000 Kilometer südlich der Hauptstadt Manila festgehalten.
Ewold H. ist immer noch in den Händen der Terroristen. Er brachte am besagten Tag keine Kraft auf, Lorenzo Vinciguerra zu folgen. «Geh du», habe er zum Schweizer gesagt.
Schweizer warnt vor Reise nach Philippinen
Vinciguerra ist es ein Anliegen, Reisende vor den Risiken einer solchen Reise zu warnen. «Ich werde Zuhause sofort mein bestes Bild von meinem Nashornvogel im Internet aufschalten und darunter schreiben: Geht nicht hin, vermeidet das Gebiet grossräumig, Es ist zu gefährlich.» Die philippinischen Behörden hätten ihn darum gebeten. (ct)