Gesundheitsorganisationen, Lebensmittelproduzenten, Detailhändler und der Bund sind sich einig: Wir konsumieren zu viel Zucker. Pro Tag nimmt ein Durchschnittsschweizer rund 120 Gramm zu sich. Das entspricht 30 Stück Würfelzucker und ist mehr als doppelt so viel, wie die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt. Als gesund gelten laut WHO maximal 50 Gramm der weissen Kristalle pro Tag.
Der Grund für den Überkonsum sind nicht allein Crèmeschnitten, Schoggistängeli oder Pralinés. Das Hauptproblem ist Zucker, den Menschen kaum wahrnehmen. Er versteckt sich in Lebensmitteln, die nicht einmal als süss gelten. Wem ist bewusst, dass er mit jedem Esslöffel Ketchup einen Teelöffel Zucker konsumiert? Und wer weiss schon, dass er mit 180 Gramm Frühstücksjoghurt ein Drittel der empfohlenen täglichen Zuckerration zu sich nimmt?
Der Zuckerwahnsinn kommt die Gesellschaft teuer zu stehen
Der übermässige Zuckerkonsum führt zu Fettleibigkeit und Krankheiten wie Diabetes Typ 2. Schätzungsweise 500'000 Menschen in der Schweiz leiden an der Zuckerkrankheit. Genaue Zahlen gibt es nicht, da für Diabetes keine Meldepflicht besteht. Viele wissen nicht einmal, dass sie Diabetes haben.
Der Zuckerwahnsinn kommt die Gesellschaft teuer zu stehen: Nach Zahlen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) summieren sich direkte und indirekte Kosten von Übergewicht, Fettleibigkeit und Diabetes in der Schweiz auf rund zehn Milliarden Franken. Pro Jahr!
Der Bundesrat betont, dass er den Zuckerkonsum reduzieren will. Er setzt allerdings auf die Eigenverantwortung der Bevölkerung und auf freiwillige Massnahmen der Lebensmittelindustrie. Vor rund zwei Jahren haben Migros, Coop, Nestlé und Co. mit Gesundheitsminister Alain Berset die Erklärung von Mailand unterzeichnet. Darin verpflichten sich die Unternehmen, den Zuckergehalt von Joghurts und Frühstücks-cerealien zu senken.
2016 empfahl die WHO, Süssgetränke mit 20 Prozent zu besteuern
Von einer Zuckersteuer, wie sie unter anderem in Frankreich, Belgien, Ungarn, Mexiko und soeben Irland eingeführt wurde, hat sich die Landesregierung dagegen stets distanziert. Ein entsprechender Vorstoss der Genfer SP-Nationalrätin Laurence Fehlmann Rielle wurde im Dezember 2016 folgendermassen zurückgewiesen: «Erst wenn sich abzeichnet, dass die Erklärung von Mailand nicht zum gewünschten Ziel führt, sollen weitere Massnahmen geprüft werden.» Im September 2017 erteilte Berset der Idee einer Zuckersteuer erneut eine Absage. «Der freiwillige Ansatz funktioniert sehr gut», sagte er vor den Medien in Bern.
Bersets Meinung teilen offenbar nicht alle in seinem Departement. Die Verantwortlichen des Projekts Actionsanté, die dem Gesundheitsminister unterstellt sind, setzen an ihrer Jahreskonferenz am 7. November die Zuckersteuer zuoberst auf die Agenda. Nicht nur eine Podiumsdiskussion dazu steht auf dem Programm, sondern auch ein Referat von Nationalrätin Fehlmann Rielle – einer flammenden Befürworterin der Zuckersteuer.
Wieso macht Bersets Departement die Zuckersteuer zum Thema, wenn der Bundesrat mit den Massnahmen der Lebensmittelproduzenten angeblich doch zufrieden ist?
Mediensprecherin Eva van Beek versucht den Widerspruch kleinzureden: «Dass Frau Fehlmann Rielle an der Konferenz teilnimmt, heisst nicht, dass die Strategie im Bereich Zucker geändert wird.» Man wolle lediglich eine offene Diskussion führen, da auch Kantone eine Zuckersteuer in Erwägung zögen.
Tatsächlich liegt das Thema Zuckersteuer schon länger in der Luft. 2016 empfahl die WHO ihren Mitgliedsländern, Süssgetränke mit 20 Prozent zu besteuern. So werde auch der Konsum dieser Getränke um rund 20 Prozent zurückgehen.
Die Lebensmittelindustrie ist aufgeschreckt
Im Frühling erreichte die Diskussion dann endgültig die Schweiz: Der Kanton Neuenburg hat eine Standesinitiative eingereicht, die eine Zuckersteuer fordert. Im Kanton Waadt machte die Regierung den Vorschlag, Süssgetränke mit 30 Rappen pro Liter zu besteuern.
Ob und wie diese Vorschläge umgesetzt werden, ist noch offen. Doch die Lebensmittel- industrie ist aufgeschreckt. Bereits im Sommer gab die IG Erfrischungsgetränke beim Forschungsinstitut GfS eine Umfrage zum Thema Zuckersteuer in Auftrag. Ergebnis: Eine Mehrheit der Schweizer sei dagegen. Die Getränkehersteller triumphierten: «Eigenverantwortung und Aufklärung ja, Bevormundung und Steuern nein.»
In Bern wird hinter den Kulissen kräftig lobbyiert. «Wir sind im Gespräch mit Politikern und hoffen, dass die Schweiz auch künftig am freiwilligen Ansatz festhalten wird», sagt Patrick Marty, Geschäftsleiter der IG Detailhandel Schweiz.
Zwar hat auch die Lebensmittelindustrie erkannt, dass übermässiger Zuckerkonsum ein Problem ist, will von einer Zuckersteuer aber nichts wissen. Die Migros hält eine solche Massnahme für sozial ungerecht: «Von Steuern, die direkt auf den Produkten erhoben werden, sind Haushalte mit tieferen Einkommen am stärksten belastet», schreibt das Unternehmen auf Anfrage. Zudem bezweifelt der orange Riese, im Gegensatz zur WHO, deren Wirksamkeit: «Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass durch Zuckersteuern keine Änderung der Konsumgewohnheiten vollzogen wird.»
Zucker-Gegner treffen sich an Halloween
Dass eine Agentur des Bundes die Zuckersteuer zum Thema macht, kommentieren die Lebensmittelproduzenten zurückhaltend. «Wir massen uns nicht an, die Programmfolge der Jahreskonferenz von Actionsanté infrage zu stellen», heisst es etwa bei Nestlé.
Tatsache ist: Der Bund befeuert die Diskussion zusätzlich, indem er das Thema an der Actionsanté-Konferenz aufs Tapet bringt. SonntagsBlick weiss: Am 31. Oktober – ausgerechnet an Halloween – planen Gesundheits- und Nichtregierungsorganisationen ein geheimes Treffen zum Thema Zuckersteuer. Moderiert wird die Veranstaltung von Heinrich von Grünigen, Präsident der Schweizerischen Adipositas-Stiftung (Saps). Er hat ein klares Ziel: «Wir wollen eine gemeinsame Position finden, die ich als NGO-Vertreter an der Jahreskonferenz von Actionsanté vertreten kann. Gemeinsam haben wir mehr Gewicht.»
Von Grünigen ist für eine Zuckersteuer. Allerdings nicht für einzelne Fertigprodukte wie Süssgetränke, sondern für den Zuckerverbrauch in der Fabrik. «Dadurch erhalten die Hersteller einen Anreiz, in ihren Produkten weniger Zucker zu verwenden.»Auch andere Gesundheitsorganisationen hegen grosse Sympathien für eine Zuckersteuer. Die freiwillige Vereinbarung mit der Lebensmittelindustrie zur Zuckerreduktion sieht man kritisch, denn dieser Ansatz funktioniere nicht.
Es ist der grösste Fall von Beschaffungskriminalität der Geschichte: der Menschenraub, den Europäer jahrhundertelang verübten, um an die Droge Zucker zu gelangen. Mehr als elf Millionen Afrikaner wurden als Sklaven nach Amerika verschleppt, die meisten mussten auf Zuckerrohrplantagen ein elendes Dasein fristen. Kein anderer Rohstoff spielte eine annähernd so bedeutende Rolle in der Geschichte der Sklaverei – mehr als Baumwolle oder Tabak, mehr als Kaffee und Kakao.
Dabei war die Menschheit bis vor 500 Jahren praktisch ohne Zucker ausgekommen. Dann aber wurde Amerika entdeckt und bald auch der Umstand, wie prächtig das aus Asien stammende Zuckerrohr in der neuen Welt gedeiht. Einziger Haken: Ernte und Verarbeitung des Zuckerrohrs waren Knochenarbeit.
Die Europäer kamen überein, für den Süssstoff über Leichen zu gehen. Für den Süssstoff – und für seine Wirkung aufs Gehirn. Zucker sorgt für eine Ausschüttung des Glückshormons Dopamin. Das bringt einen sanften Kick, der rasch vom Verlangen nach noch mehr Zucker abgelöst wird.
Heute wird Saccharose industriell und in rauen Mengen produziert. Nicht mehr das pflegeintensive Zuckerrohr aus Brasilien und der Karibik ist ihr Ursprung, sondern die anspruchslose Zuckerrübe. Es bedarf keiner Beschaffungskriminalität mehr, um an den Stoff zu kommen. Gleichwohl ist der Zucker die mächtigste Droge der Welt geblieben.
Rund 50 Kilo davon vertilgen Herr und Frau Schweizer jedes Jahr. Einen Teil sicher unbewusst, versteckt sich Zucker doch in Fertiggerichten, im Bündnerfleisch, im Hüttenkäse und wahrscheinlich auch in Ihrer Lieblingsspeise.
Und wie bei jeder Droge, bezahlen viele Menschen den übertriebenen Zuckerkonsum mit ihrem Leben. Diabetes gilt als Volkskrankheit. Jährlich sterben daran hierzulande sehr viel mehr Menschen als am Alkohol.
Dass jetzt darüber debattiert wird, wie sich der Konsum des weissen Kristalls eindämmen lässt, liegt auf der Hand. Denkbar wären klare Hinweise über den Zuckergehalt auf Verpackungen für Lebensmittel. Ob es gar eine Zuckersteuer braucht? Liberale verwerfen die Hände. Die Industrie warnt bereits vor Entmündigung der Konsumenten. Und in der Tat: Solche staatlichen Eingriffe würden einer grossen Mehrheit der Bevölkerung heute bitter aufstossen.
Allerdings erscheinen zunächst als radikal verschrieene Massnahmen im Rückblick häufig als höchst vernünftig. Ende des 18. Jahrhunderts formierte sich in England erstmals Widerstand gegen die Zuckerwirtschaft. Von Sklaven angebauter Zucker sei blutbefleckt, predigte ein Kirchenmann: «Mit jedem Pfund Zucker verzehren wir zwei Unzen Menschenfleisch.»
Über die Jahre schwoll der Protest gegen den Sklavenzucker in Grossbritannien zur Massenbewegung an. Schliesslich beugte sich das Parlament in London und schaffte die Sklaverei 1833 ab.
Ehe man eine Zuckersteuer also gleich zur totalen Utopie erklärt: Wer käme heute noch auf die Idee, die Richtigkeit des Sklavereiverbots anzuzweifeln?
Unsere Geschichte wartet freilich mit einer weiteren Wendung auf. Das Ende des Sklaverei markiert den Aufstieg der Zuckerrübe, mithin des europäischen Billigzuckers. Mit dem Ende der Sklaverei wurden wir alle definitiv zu Sklaven des Zuckers.
Es ist der grösste Fall von Beschaffungskriminalität der Geschichte: der Menschenraub, den Europäer jahrhundertelang verübten, um an die Droge Zucker zu gelangen. Mehr als elf Millionen Afrikaner wurden als Sklaven nach Amerika verschleppt, die meisten mussten auf Zuckerrohrplantagen ein elendes Dasein fristen. Kein anderer Rohstoff spielte eine annähernd so bedeutende Rolle in der Geschichte der Sklaverei – mehr als Baumwolle oder Tabak, mehr als Kaffee und Kakao.
Dabei war die Menschheit bis vor 500 Jahren praktisch ohne Zucker ausgekommen. Dann aber wurde Amerika entdeckt und bald auch der Umstand, wie prächtig das aus Asien stammende Zuckerrohr in der neuen Welt gedeiht. Einziger Haken: Ernte und Verarbeitung des Zuckerrohrs waren Knochenarbeit.
Die Europäer kamen überein, für den Süssstoff über Leichen zu gehen. Für den Süssstoff – und für seine Wirkung aufs Gehirn. Zucker sorgt für eine Ausschüttung des Glückshormons Dopamin. Das bringt einen sanften Kick, der rasch vom Verlangen nach noch mehr Zucker abgelöst wird.
Heute wird Saccharose industriell und in rauen Mengen produziert. Nicht mehr das pflegeintensive Zuckerrohr aus Brasilien und der Karibik ist ihr Ursprung, sondern die anspruchslose Zuckerrübe. Es bedarf keiner Beschaffungskriminalität mehr, um an den Stoff zu kommen. Gleichwohl ist der Zucker die mächtigste Droge der Welt geblieben.
Rund 50 Kilo davon vertilgen Herr und Frau Schweizer jedes Jahr. Einen Teil sicher unbewusst, versteckt sich Zucker doch in Fertiggerichten, im Bündnerfleisch, im Hüttenkäse und wahrscheinlich auch in Ihrer Lieblingsspeise.
Und wie bei jeder Droge, bezahlen viele Menschen den übertriebenen Zuckerkonsum mit ihrem Leben. Diabetes gilt als Volkskrankheit. Jährlich sterben daran hierzulande sehr viel mehr Menschen als am Alkohol.
Dass jetzt darüber debattiert wird, wie sich der Konsum des weissen Kristalls eindämmen lässt, liegt auf der Hand. Denkbar wären klare Hinweise über den Zuckergehalt auf Verpackungen für Lebensmittel. Ob es gar eine Zuckersteuer braucht? Liberale verwerfen die Hände. Die Industrie warnt bereits vor Entmündigung der Konsumenten. Und in der Tat: Solche staatlichen Eingriffe würden einer grossen Mehrheit der Bevölkerung heute bitter aufstossen.
Allerdings erscheinen zunächst als radikal verschrieene Massnahmen im Rückblick häufig als höchst vernünftig. Ende des 18. Jahrhunderts formierte sich in England erstmals Widerstand gegen die Zuckerwirtschaft. Von Sklaven angebauter Zucker sei blutbefleckt, predigte ein Kirchenmann: «Mit jedem Pfund Zucker verzehren wir zwei Unzen Menschenfleisch.»
Über die Jahre schwoll der Protest gegen den Sklavenzucker in Grossbritannien zur Massenbewegung an. Schliesslich beugte sich das Parlament in London und schaffte die Sklaverei 1833 ab.
Ehe man eine Zuckersteuer also gleich zur totalen Utopie erklärt: Wer käme heute noch auf die Idee, die Richtigkeit des Sklavereiverbots anzuzweifeln?
Unsere Geschichte wartet freilich mit einer weiteren Wendung auf. Das Ende des Sklaverei markiert den Aufstieg der Zuckerrübe, mithin des europäischen Billigzuckers. Mit dem Ende der Sklaverei wurden wir alle definitiv zu Sklaven des Zuckers.