Sie ist eine der ältesten Frauenorganisation der Schweiz: die Frauenzentrale Zürich. Seit 1914 tritt sie für die Rechte von Frauen in der Schweiz ein. Nun möchte sie eine Diskussion anstossen, die in anderen europäischen Ländern längst geführt wird – über die Prostitution.
Vergangenen Monat hat die Frauenzentrale Fachleute zahlreicher Disziplinen um einen runden Tisch versammelt. Das Motiv der Organisatorinnen: Wenn in der aktuellen #MeToo-Diskussion ein weitverbreitetes sexistisches Frauenbild kritisiert wird, sollte man gleich dort anfangen, wo reale Frauen am meisten betroffen sind: in der Prostitution.
Maria* steht im Industriegebiet Hasli in Olten SO. «Schätzeli, hast du Lust?», fragt sie einen Freier, der im Schritttempo vorüberfährt. 15 Minuten, 50 Franken – «ficken, blasen». Ihr Zimmer gleich neben dem Strich, 110 Franken pro Tag, ein Bett, das Bad im Gang. Hier arbeitet und lebt sie. 20 Minuten später steht sie wieder an der Strasse. Nein, reden wolle sie nicht. Für 50 Franken? 15 Minuten? Maria überlegt. «Gut – reden besser als ficken.» Sie setzt sich aufs Bänkli, trinkt Capri-Sonne, raucht.
Maria ist Ungarin, Mutter dreier Kinder, das älteste zehn, der Mann abgehauen. Sie habe versucht, die Familie mit normalen Jobs durchzubringen, es aber nicht geschafft. Die Frage, durch wen sie hergekommen sei, überhört sie, saugt am Röhrchen ihres Fruchtdrinks.
Könnte sie ein normales Leben haben, würde sie sofort aufhören, sagt sie. Und nein, daheim wisse keiner, was sie hier mache. Komme sie nach Hause, bringe sie Schokolade mit. In Ungarn sei sie eine ganz normale Mutter. Maria sagt das dreimal, mindestens – «eine ganz normale Mama». Sie steht auf, tritt an ein offenes Autofenster – «Schätzeli, hast du Lust?»
In der Schweiz ist wenig bekannt über Frauen wie Maria. Obwohl hierzulande vieles akribisch erfasst wird. Zum Beispiel die Anzahl von Kühen, auf die Kuh genau. Wie viele Prostituierte es gibt, weiss dagegen keiner. Auch nicht das Bundesamt für Polizei.
«Keine Probleme», aber auch keine Fakten
Manche Kantone führen Statistiken, so auch Basel-Stadt. Dort waren im letzten Jahr 3400 Frauen im Milieu tätig. 2524 von ihnen kamen aus europäischen Staaten, für welche die volle Personenfreizügigkeit gilt. Diese Frauen dürfen hier drei Monate pro Jahr im Sexgewerbe arbeiten. Der Kanton Zürich gehört zu denen, die nicht aufschlüsseln können, wie viele Frauen sich verkaufen. Obschon die Faktenlage so dünn ist – oder gerade deswegen –, lautet der Grundtenor in den meisten Kantonen: Keine nennenswerten Probleme, läuft alles rund in den heimischen Bordellen.
Einzig Alexander Ott, Leiter des Polizeiinspektorats Bern, ist kritischer. Er schaut nicht nur auf die Aufenthaltspapiere. Was er beobachtet, beunruhigt ihn: Das Gewerbe werde immer volatiler, unberechenbarer, viele Frauen blieben nur noch zwei bis drei Tage in einem Etablissement, die Zahl der Neueinsteigerinnen steige, häufig seien sie sehr jung. Für Ämter, Polizei und Hilfsorganisationen werde es immer schwieriger, die Übersicht zu behalten. Die Frauen hätten kaum eine Chance, Kontakte zu knüpfen, sich jemandem anzuvertrauen: «Das ist schlecht für ihre Sicherheit», sagt Alexander Ott.
Und auch für ihre Gesundheit. Sex wird immer billiger, ist heute schon ab 30 Franken zu haben – immer öfter auch ohne Gummi. Grund ist die grosse Konkurrenz. Im Kanton Bern haben sich im vergangenen Jahr 30 Prozent mehr Frauen registriert als im Vorjahr. Rückmeldungen von Fachstellen und Kantonen zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der Prostituierten aus zwei der wirtschaftlich ärmsten Länder Europas kommen – Ungarn und Rumänien.
Medis gegen Schmerzen
Olten, Strassenstrich, im Zimmer der Rumänin Sandra*. Spiegel überm Bett, Stöhnen aus dem Nebenzimmer. Auf einer Heizung sechs Tangas zum Trocknen, auf der Fensterbank eine Schachtel des Medikaments «Vagynax». Das helfe gegen Schmerzen im Bauch «wegen vielem Ficken», sagt sie.
Studien über Prostituierte gibt es kaum. Was alle zeigen: Prostituierte erleben in hohem Ausmass Gewalt, sind oft abhängig von Suchtmitteln und weisen signifikant mehr seelische Erkrankungen auf als der Rest der Bevölkerung, darunter schwerste posttraumatische Störungen.
Jan Gysi kennt sich damit aus. Der Berner Psychiater ist spezialisiert auf solche Krankheitsbilder. Ihn suchen Menschen auf, die irgendwann etwas so Schlimmes erlebt haben, dass ihre Psyche versucht hat, diese Erfahrung abzuspalten, um sich vor der Erinnerung zu schützen. Das kann so weit gehen, dass ein Mensch in verschiedene Identitäten zerfällt. Gysi: «Das Auffällige an diesen Menschen kann sein, dass sie eben so ganz und gar nicht auffällig sind.»
Die Not hinter dieser neutralen Fassade sei oft riesig. Jan Gysi therapiert auch Prostituierte. Es seien Frauen, die in der Kindheit sexuellen Missbrauch erlebt haben. Dass sie sich später entschieden, Prostituierte zu werden, erklärt der Psychiater so: Das Selbstbild dieser Frauen sei schlecht, sie hätten das Gefühl, nichts anderes verdient zu haben. Selbstfürsorge und Selbstrespekt hätten in ihrer Existenz kaum Bedeutung. Die Prostitution sei das, was sie bereits kennen. Gysi: «Von Freiwilligkeit in der Prostitution zu sprechen, ist deshalb ein Hohn.»
Freier sind Verdränger
Der Freier freilich wolle glauben können, dass die Frauen das gerne und freiwillig tun – und verdränge dabei, wie viel Gewalt in diesem Gewerbe steckt, erklärt Gysi. «Was der Freier im Einzelfall macht, tun wir als Gesellschaft ein Stück weit auch.»
Sofia* (38), pinkes Höschen, pinker BH, nimmt nach der Arbeit Schlafmittel und ist morgens trotzdem als Erste wach. Obwohl die bezahlten 15 Minuten abgelaufen sind, will sie weiterreden, zeigt Bilder ihrer Enkelin auf dem Handy. «Dreh noch eine Runde», sagt sie, als ein Freier bremst. Die Arbeit hier sei okay, sagt sie. Was, wenn auch ihre Tochter auf dem Strich arbeiten würde? Sofia reagiert entsetzt. Ihre knappe Antwort: Sie würde sofort sterben, wenn ihre Tochter so etwas tun würde.
Im Internet gibt es Foren, in denen Männer sich über Prostituierte wie Sofia oder Maria unterhalten: «Habe in den letzten Monaten 16 Girls auf dem Strassenstrich Olten mitgenommen. Leider waren alle mehr oder weniger Schrott.» – «Ihr Monieren, ich solle nicht so wild sein, ignorierte ich in Anbetracht des Null-Service.» – «Während ich in sie reinstiess, drückte sie mich immer mit den Armen ein Stück weit weg, da er scheinbar zu gross für sie war. Ich drehte sie kurzerhand um (…), damit sie nicht Gegendrücken kann.»
Barbara Köhler ist Beckenboden-Therapeutin in Zürich. Sie erinnert sich an eine Patientin mit Stuhlinkontinenz und chronischer Verstopfung. Keine Therapie schlug an. Köhler war ratlos. Dann erzählte die Frau, dass sie als Prostituierte gearbeitet hatte, berichtete vom Ekel, nicht nur bei der Penetration, auch vor dem Atem, dem Schweiss, davon, vorspielen zu müssen, dass es ihr gefiel. Vom Bauchnabel abwärts hatte sie ihren Körper wie abgeschaltet, beschreibt es Köhler. Vermutlich, um sich zu schützen. Erst eine psychotherapeutische Behandlung half der Betroffenen. Villa Velvet, Oftringen AG. Das Bordell zeigt im Internet eine Preisliste für die Dienste der Frauen.
Ins Gesicht ejakulieren? 50 Franken
Geschlechtsverkehr 100 Franken, ins Gesicht ejakulieren 50 Franken extra, ab 20 Minuten Service einen Softdrink gratis.
Nach dem Klingeln öffnet eine Frau. Sie klärt ab, ob wir hineindürfen. Die Tür geht zu, wieder auf. «Leider nein.» Warum? – «Frauen sind hier nicht erwünscht.»
Mit Prostituierten in Kontakt zu treten, ist schwierig, wenn man kein Freier ist. In Edelbordellen sind vielleicht die Zimmer sauberer, nicht aber die Prostitution. Das zeigt sich schon daran, dass Opfer von Zwangsprostitution aus allen Bereichen kommen – vom Strich und aus grossen Bordellen.
Zurück auf den Strassenstrich. Elena*(22), Alleinerziehende aus Bulgarien. Nein, keine gute Arbeit. Sie sei immer nervös, habe oft Kopfschmerzen. Sie würde aufhören, wenn sie könnte. Wie Elena geht es mindestens 80 Prozent aller Frauen im Sexgewerbe. Auch das zeigen Studien. Sie würden sofort aussteigen, wenn sie könnten.
Auch deshalb wird die Frauenzentrale die Prostitution ab diesem Sommer zum Schwerpunktthema machen. Damit die Öffentlichkeit hinsehen muss – und endlich auch darüber spricht, welche Verantwortung der Freier trägt. Denn er bestimmt die Nachfrage.
* Namen geändert