Delil B.* hat zwei Alter. Er ist ein 16-jähriger Junge. Geboren am 6. August 1999 in Afghanistan. «So stand es in meiner Schulregistrierung und in meiner Geburtsurkunde», sagt er. Die Urkunde habe sich in seinem Koffer befunden, als er im Sommer mit einem Boot von der Türkei nach Griechenland übersetzte. Doch das Boot drohte zu kentern. Da hätten die Flüchtlinge auf Geheiss der Schlepper alles Gepäck über Bord geworfen.
Delil B. ist aber auch ein 18-jähriger Mann. Das entschieden die Mitarbeiter des Staatssekretariats für Migration (SEM), als er vor sieben Monaten im Empfangszentrum Kreuzlingen TG um Asyl ersuchte. Da er keine Identitätspapiere vorweisen konnte, schickten sie ihn zu einem Arzt. «Der Doktor hat meine linke Hand geröntgt und kam zum Schluss, ich sei volljährig.»
Delil B., klein, struppige Augenbrauen, Dächlikappe, mustert lange wortlos die Tischplatte. Er weiss: Der Unterschied zwischen 16 und 18 ist gross. An diesem Unterschied hängt womöglich seine ganze Zukunft.
Bund verwehrt Schutz
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge geniessen in der Schweiz besonderen Schutz. Sie erhalten einen Beistand und werden in speziellen Unterkünften untergebracht. Bei Kinderflüchtlingen sind Rückführungen und Abschiebungen nur in Ausnahmefällen möglich.
Wäre Delil B. ein 16-jähriger Junge, geboren am 6. August 1999 in Afghanistan – er hätte gute Aussichten auf Schutz in der Schweiz. Wäre. Hätte.
BLICK-Recherchen weisen nun darauf hin, dass der Bund vielen Kinderflüchtlingen jenen Schutz nicht gewährte, der ihnen gemäss Verfassung und Uno-Kinderrechtskonvention zusteht. Hunderte Minderjährige könnten im Asylprozess zu Volljährigen gemacht worden sein. Die Konsequenzen für die Betroffenen reichen von ungenügender Betreuung und Unterbringung bis zu Rückführung.
BLICK stützt seine Befunde auf eine Analyse von Angaben aller rund 151'000 Personen, die zwischen 2010 und 2015 in der Schweiz um Asyl baten. Den Auszug aus der SEM-Datenbank hat BLICK gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten.
Eklatante Unregelmässigkeiten
Die Altersstruktur der Asylbewerber weist eklatante Unregelmässigkeiten rund um die Volljährigkeitsgrenze auf. Insbesondere 17-jährige Flüchtlinge sind stark unter-, 18-jährige hingegen krass übervertreten. Der Effekt zeigt sich fast nur bei männlichen Asylsuchenden. Besonders deutlich tritt er bei Herkunftsländern zu Tage, bei denen die Asylchancen gering sind. So etwa bei Nigeria und bei Afghanistan, dem zweitwichtigsten Herkunftsland von Kinderflüchtlingen.
Für Sozialstruktur-Experten sind diese Zahlen nicht plausibel. «Die Altersverteilung ist extrem auffällig», sagt Ben Jann, Soziologieprofessor der Universität Bern. Aufgrund der speziellen Behandlung von minderjährigen Personen im Flüchtlingswesen sei zwar ein Unterschied zwischen Voll- und Minderjährigen zu erwarten. Dass jedoch nur gerade bei den 18-Jährigen eine starke Häufung auftritt, könne dadurch nicht erklärt werden. Er habe die starke Vermutung, dass eine Umverteilung zu den 18-Jährigen stattfinde – «nicht nur von Älteren, sondern auch von Jüngeren».
Es wäre nicht das erste Mal, dass eine SEM-Praxis zu Ungunsten der Kinder wirken würde. 2015 sah sich der Uno-Kinderrechtsausschuss veranlasst, beim SEM eine rasche Behandlung von Asylanträgen von Minderjährigen anzumahnen. Zu oft wurden Anträge so lange verschleppt, bis ein Asylbewerber volljährig war.
Im Zweifel für die Minderjährigkeit
Macht das SEM also Kinderflüchtlinge zu Volljährigen, um sie einfacher abschieben zu können? «Diesen Vorwurf weise ich entschieden zurück», sagt Pius Betschart, Asylchef des SEM. Seine Behörde prüfe die Einzelfälle und entscheide im Zweifel für die Minderjährigkeit. Die Verzerrung in der Altersverteilung überrasche ihn nicht. Sie habe mehrere Gründe. Viele erwachsene Asylsuchende versuchten, sich als Minderjährige auszugeben. «Kommen wir mit unseren Altersgutachten zum Schluss, dass eine Person erwachsen ist, wird sie als 18-jährig eingestuft.»
Zugleich komme es vor, so SEM-Betschart, dass Minderjährige sich als Erwachsene ausgeben. Etwa weil sie glauben, dann eher arbeiten zu dürfen. «In diesen Fällen müssen wir keine Altersbestimmung vornehmen.» Das Asylgesetz sehe Altersgutachten nur bei Zweifel an der Minderjährigkeit vor, nicht bei Zweifel an der Volljährigkeit.
Auf den Einwand, dass die Schweiz auch zum Schutz dieser Minderjährigen verpflichtet ist, schiebt Betschart nach: Wenn konkrete Hinweise vorlägen, würde man natürlich auch in diesen Fällen eine Altersbestimmung machen.
Experten sind nicht überzeugt
Experten aus dem Asyl- und Kinderschutzbereich überzeugen diese Ausführungen nicht. Constantin Hruschka von der Flüchtlingshilfe: «Diese Altersstruktur lässt sich nicht mit Eigenheiten der Flüchtlinge erklären. Sie muss mit der Praxis der Behörden zusammenhängen.» Die Flüchtlingshilfe befürchte schon länger, dass das SEM im Zweifel gegen die Minderjährigkeit entscheide. «Ich hätte aber nie erwartet, dass das Ausmass so massiv ist. Der Verdacht liegt nahe, dass gegen die Uno-Kinderrechtskonvention verstossen wird.»
Elsbeth Müller von Unicef Schweiz ist besorgt: «Für Unicef ist fraglich, ob die Schweiz ihre Schutzverpflichtung für Kinderflüchtlinge noch umfassend wahrnimmt.» Das sei besonders schwierig, weil derzeit so viele unbegleitete minderjährige Asylsuchende die Schweiz aufsuchten wie nie zuvor.
Delil B. erzählt, er habe den SEM-Vertretern immer wieder gesagt, dass er erst 16 Jahre alt sei. «Die Leute vom SEM haben Beweise verlangt. Doch ich habe keine Beweise. Sie liegen auf dem Grund des Mittelmeers.»
Alle Zahlen, alle Fakten: Der grosse Asyl-Report
* Name der Redaktion bekannt