Er sieht so harmlos aus, der Mann in der blaugrauen Jacke mit dem schwarzen Rucksack, der am 31. Januar durch den Bauch des Fährschiffs «Scandola» schlendert. Aber der Mann ist nicht harmlos. Er ist angefüllt mit Verbitterung, voll von Hass. So tief sitzt der Zorn, dass er seine beiden sechsjährigen Töchter umgebracht hat, um sich an seiner in Scheidung von ihm lebenden Frau zu rächen.
Der Mann auf dem Bild ist Matthias Schepp († 43). Es ist das allerletzte Foto, das von ihm existiert. Aufgenommen hat es eine Überwachungskamera um 16.30 Uhr am zweiten Tag seiner Reise in den Tod, einem Montag. Im Unterdeck der «Scandola». Dort, wo die Autos eingeladen werden.
Fragen drängen sich auf: Warum sind die sechsjährigen Zwillinge Alessia und Livia nicht bei ihm? Sind die beiden hübschen Mädchen zu diesem Zeitpunkt bereits tot? Betrat Schepp die Fähre nur, um eine falsche Spur zu legen? Um sich durch die entstehende Ungewissheit noch brutaler an seiner Ex-Frau zu rächen?
Die Fakten sagen Folgendes:
– Stunden bevor Schepp die Fähre betritt, kommt er am 31. Januar schon einmal ins Visier einer Überwachungskamera. Es ist 11.03 Uhr, als er seinen schwarzen Audi A6 Kombi in der Nähe des alten Hafens von Marseille in ein Parkhaus lenkt. Schon da sitzt er allein im Wagen.
– Wenig später, zwischen 12 und 14 Uhr, zieht Schepp an einem Bancomat in Marseille mehrere Hundert Euro. Wieder ist auf dem Foto keine Spur von den Zwillingen zu sehen.
– Um 16.10 Uhr verlässt er das Parkhaus wieder, um den Wagen für die Überfahrt nach Korsika einzuschiffen. Dabei wird er etwa 20 Minuten später erneut von einer Kamera erfasst – das letzte Foto.
Falsche Fährte gelegt?
Drei Bilder. Klar und deutlich. Dreimal ist Schepp zu sehen. Aber kein einziges Mal die Zwillinge. Der Kauf von Tickets für sich und die Kinder zur Überfahrt nach Korsika erscheint aufgrund dieser Faktenlage in einem anderen Licht. Die Polizei in Marseille schliesst nun nicht mehr aus, dass er damit eine falsche Fährte legen wollte.
Auch die Glaubwürdigkeit der Zeugen, die die Zwillinge auf der Fähre gesehen haben wollen, sind nicht über alle Zweifel erhaben. Eine Zeugin will die Kinder in der Nachbarkabine weinen gehört haben – gesehen hat sie die Mädchen nicht.
Der Onkel der Zwillinge Valero Lucidi sagt, dass Schepp allein auf der Fähre gesehen worden sei. Und dass er die Ausweise der Kinder gar nicht dabei hatte. Die fand man später in der Schweiz.
Vage Zeugenaussagen
Die Autofähre «Scandola» legt am Dienstag, 1. Februar, frühmorgens, um 6.30 Uhr in Korsika an. Von der Insel gibt es mehrere, aber nur vage Zeugenaussagen. Eine Frau sagt, sie habe die Kinder gesehen, sie hätten Italienisch gesprochen. Doch Alessia und Livia sprachen immer Französisch miteinander.
Am Abend besteigt Schepp um 21 Uhr die Fähre nach Toulon (F) – wieder allein.
Die Polizei geht noch den undeutlichsten Hinweisen nach. Sie sucht auch heute Sonntag in Korsika nach den Zwillingen. Mit dabei sind auch Schweizer Beamte. Offenbar wurde die Mutter angefragt, ob sie bei der Suche dabei sein will. Sie kennt die Gegend aus gemeinsamen Segelferien mit Mann und Kindern und kann der Polizei Orte zeigen, wo Schepp die beiden versteckt haben könnte.
Keine neuen Erkenntnisse
Doch die französische Polizei warnt vor übertriebenen Hoffnungen. Es gebe keine neuen Erkenntnisse über das Verschwinden der Kinder. Auch nicht darüber, dass Schepp tatsächlich mit den Kindern in Korsika angekommen ist. Allerdings gäbe es ein emotionales Motiv dafür, dass Schepp auf die Insel übersetzte: Möglicherweise wollte er noch einmal den Ort sehen, an dem er mit seiner Familie Ferien verbracht hatte. Glückliche Ferien in einer glücklichen Zeit.
Ausgeschlossen scheint mittlerweile, dass die Kinder in den Tagen danach mit ihm durch Italien fuhren. Hier, im Heimatland der Mutter wurden sie nie gesehen. Auch in Italien erfasst eine Überwachungskamera das Auto von Schepp – die Zwillinge sind auf dem Bild nicht zu sehen. Sein letztes Lebenszeichen stammt vom 3. Februar, einem Donnerstag. Er isst in Vietri sul Mare in der Nähe von Salerno zu Mittag. Sein Gast sei freundlich gewesen, gibt der Wirt später zu Protokoll.
Am Ende dieses Tages, um 23 Uhr, wirft sich Schepp in Cerignola vor einen Eurostar-Zug. Er ist auf der Stelle tot.
Bereits in der Schweiz getötet?
Die Bilder der Überwachungskameras in Marseille und Zweifel an den Zeugenaussagen nähren einen alten Verdacht, den die Polizei bereits zu Beginn der Entführung geäussert hat: Schepp könnte seine beiden Kinder schon in der Schweiz getötet haben.
Fakt ist: Als Schepp am Sonntag, 30. Januar, gegen Abend Richtung Frankreich fährt, fehlen in seinem Auto die Kindersitze. Die findet die Polizei später in seiner Wohnung. Auch Kinderkleider hat er keine eingepackt. Das Plüschtier «Mathilda», ohne das Livia nie schlafen gegangen war, fand die Polizei ebenfalls in Schepps Wohnung. Und dann gibt es diese schreckliche Botschaft an seine von ihm getrennt lebende Frau Irina.
Er schickte sie per Post am 3. Februar aus Cerignola ab, am Tag seines Selbstmords: «Meine Liebe, ich wollte zusammen mit ihnen sterben. Aber so ging es nicht. Ich werde jetzt der Letzte sein, der geht.»
«Ciao, für immer»
Die Mutter Irina klammert sich an die Hoffnung, dass ihre Kinder doch noch gefunden werden. Genährt wird sie von Schepps Aufnahmegerät, das er stets bei sich trug. Die Polizei sucht intensiv danach. Vielleicht hat er darauf eine Botschaft hinterlassen, die zu Livia und Alessia führt.
Doch die letzten Briefe von Matthias Schepp lassen wenig Spielraum. Es steht zu befürchten, dass die Zwillinge nie gefunden werden. In einem Brief, den er am 31. Januar in Marseille schrieb, teilt er Irina mit: «Hilfe, ich kann nicht mehr, ohne den Verstand zu verlieren.» Er verflucht die Anwälte und beklagt sich, dass ihm alle helfen wollen, nur sie nicht. «Alles, was ich wollte, ist eine Familie (...).» Das Schreiben schliesst: «Ciao, für immer.»
In einem anderen seiner vielen Briefe an Irina schlägt Schepps ganzer Hass durch. Sie hat ihn verlassen. Sie ist schuld. Sie hat die Familie zerstört. Sie muss büssen: «Du wirst sie nie mehr sehen», schreibt er an die Mutter seiner Kinder. Und mit zynischer Verachtung endet er: «Ich hoffe, dass du dich deswegen nicht umbringst.»
Auf einer Postkarte deutete er Tage zuvor an: «Ohne dich kann ich nicht leben.» Und fett unterstrichen: «... aber jetzt ist es zu spät.»
Wie tief sein Hass auf die Frau ist, die sich von ihm scheiden lassen will, steht am Schluss des Briefes: «Du wirst sie nie mehr sehen. Ich hoffe, dass du dich deswegen nicht umbringst.»
Doch die Mutter hofft weiter: «Es kann nicht sein, dass meine kleinen Zwillinge tot sind. Mein Mutterherz fühlt, dass sie noch leben», sagte sie noch am Freitag.
Auf einer Postkarte deutete er Tage zuvor an: «Ohne dich kann ich nicht leben.» Und fett unterstrichen: «... aber jetzt ist es zu spät.»
Wie tief sein Hass auf die Frau ist, die sich von ihm scheiden lassen will, steht am Schluss des Briefes: «Du wirst sie nie mehr sehen. Ich hoffe, dass du dich deswegen nicht umbringst.»
Doch die Mutter hofft weiter: «Es kann nicht sein, dass meine kleinen Zwillinge tot sind. Mein Mutterherz fühlt, dass sie noch leben», sagte sie noch am Freitag.