Prächtiger Sonnenschein, Risotto, Tessiner Wein und Spezialitäten: Bei der gestrigen Delegiertenversammlung in der Kaserne von Airolo TI ist alles angerichtet für ein lockeres, letztes Treffen der Freisinnigen vor der Sommerpause
Doch die Themen, die angesprochen werden, sind nicht locker, sondern politisch hoch brisant. Es geht um die umstrittene Europapolitik.
In der ersten Reihe sitzt auch Ignazio Cassis (57), seit 1. November Aussenminister. Bewusst oder unbewusst: Nach seinen jüngsten kritischen Aussagen zu den Flankierenden Massnahmen gehen die Tessiner Vertreter in die Offensive. Ausgerechnet Regierungsrat Christian Vitta (45), der sich im letzten Herbst als Alternative zur Kandidatur von Cassis präsentierte, hebt die Bedeutung der Flankierenden Massnahmen für den Südkanton in seiner Präsentation hervor.
Der Finanzdirektor geht im Referat noch einen Schritt weiter. Er verteidigt die im Tessin vom Volk beschlossene Einführung eines kantonalen Mindestlohnes.
Für bürgerliche Politiker eigentlich ein absolutes No-Go. Mit aller Kraft bodigte die FDP zusammen mit SVP und CVP vor vier Jahren ein Volksbegehren der Gewerkschaften, das genau dies vorschlug. Aber offensichtlich ist der Druck auf die Löhne im Tessin dermassen gross, dass auf der rechten Seite in den letzten Jahren ein Umdenken eingesetzt hat.
Was die Teilnehmer nicht wussten. Eine italienische Firma, die in Cassis’ Haus in Montagnola TI Arbeiten ausführte, wurde gebüsst. Grund: Zwei Arbeiter wurden nicht korrekt entlöhnt.
Interessant: SonntagsBlick konfrontierte den FDP-Politiker gestern mit dem brisan-ten Fall, aber auch mit der Forderung eines Mindestlohnes. Was speziell die Linken und viele Tessiner freuen dürfte. Cassis spricht Vitta seine «volle Unterstützung» zu. Auch zu seinem Umbau sucht er die Flucht nach vorne. Der Fall zeige, dass die Flankierenden Massnahmen «eingehalten werden müssen». Auch das dürfte die Gewerkschaften freuen.
Herr Bundesrat, Ihr Parteikollege und Tessiner Regierungsrat Christian Vitta betonte an der Delegiertenversammlung der FDP in Airolo die Bedeutung der Flankierenden Massnahmen für den Tessin. Er spricht sogar von einem kantonalen Mindestlohn. Haben Sie dafür Verständnis?
Ignazio Cassis: Ja. Der Tessin ist ein Grenzkanton und deshalb ist der Lohnschutz besonders wichtig. Herr Vitta hat meine volle Unterstützung.
Trotzdem: Es waren doch Sie, der kürzlich sagte, die Schweiz müsse auch über die Flankierenden Massnahmen diskutieren.
Der Bundesrat hat entschieden, dass die Flankierenden Massnahmen nicht verhandelbar sind. Sie dürfen nicht geändert werden, sind als rote Linien in den Verhandlungen definiert. Aber wer weiss, vielleicht ändert der Bundesrat eines Tages seine Meinung, wenn man den gleichen Lohnschutz mit anderen Methoden erreichen kann. Aber im Moment ist die Situation, wie sie ist.
Sie selber sind von den Auswirkungen der Flankierenden Massnahmen betroffen. Eine italienische Firma, die bei Umbauarbeiten in Ihrem Haus tätig war, wurde kürzlich gebüsst. Hat Sie das geärgert.
Ich kannte diesen Fall nicht, bis Sie mich letzte Woche darüber informiert haben. Aber wenn die von meinem Architekt beauftragte Firma einen Fehler gemacht hat, ist es normal, dass sie gebüsst wurde.
Und es zeigt, wie zentral die Flankierenden Massnahmen sind.
Es zeigt vor allem, dass sie eingehalten werden müssen und dass die Kontrollen wirksam sind.