Für manchen Schmerzmediziner endete das Jahr 2019 qualvoll. Statt der erhofften Überweisung erhielten viele der Halbgötter in Weiss ein dröges Schreiben der Firma Nevro. Der US-Konzern ist auf Implantate für Schmerzpatienten spezialisiert – fünf bis sechs Zentimeter grosse Stimulatoren, die unter die Haut gepflanzt werden.
Das seit 2017 geltende «Nevro Partnership Program» werde per sofort eingestellt, so die Hiobsbotschaft. Die Konsequenz: Die gewohnten Rückvergütungen, die bislang jedes Jahr so flott aufs Konto flossen, blieben aus. Es ging zum Teil um sechsstellige Summen.
Dem Unternehmen war die Sache offensichtlich zu heikel geworden; mit dem Beschluss wurden zugleich zwei für die Schweiz zuständige Manager entlassen.
Kick-back-Zahlungen verpönt aber weit verbreitet
Beim «Partnership Program» handelt es sich um ein Belohnungssystem, ähnlich wie es auch die Konkurrenz von Medtronic, Abbott oder Boston Scientific kennt: Je mehr Neurostimulatoren von Nevro die Ärzte ihren Schmerzpatienten einpflanzen, desto höher fällt die Vergütung zum Jahresende aus. In der Medizin sind Kick-back-Zahlungen verpönt, aber weitverbreitet. Sie gelten als wesentlicher Kostentreiber im Schweizerischen Gesundheitswesen. Denn sie schaffen einen Anreiz für noch mehr Sprechstunden, noch mehr Behandlungen, noch mehr Operationen.
Die Branche schweigt über dieses Thema wie über ein Staatsgeheimnis. Doch SonntagsBlick liegt nun der Vertrag vor, den Nevro für das Jahr 2019 mit Schweizer Ärzten und Kliniken abgeschlossen hatte. Aussenstehende erhalten damit erstmals einen detaillierten Einblick, wie das System funktioniert.
80'000 Franken Cash für 400'000 Franken Implantate
Das Implantat wird meist ambulant verpflanzt und über den Tarmed-Tarif abgerechnet. Es kostet mit allen benötigten Teilen rund 50'000 Franken; mit nur zwei Stück winken dem Medikus bereits 10'000 Franken Zustupf.
Bringt ein Arzt Implantate für 400'000 Franken unters Volk, erhält er 80'000 Franken Cash zurück. Das reicht schon für eine Patek-Philippe-Uhr. Wer seinen Patienten Nevro-Stimulatoren für 800'000 Franken in den Rücken setzt, wird mit 160'000 Franken belohnt. Damit kann man sich bereits einen Maserati kaufen – für Schmerzmediziner zahlt es sich also aus, wenn sie sich für den teuren Eingriff entscheiden.
Dass Geld bei medizinischen Entscheiden eine grosse Rolle spielt, steht ausser Zweifel. Im Januar bestätigte das nicht etwa ein externer Kritiker des Gesundheitswesens, sondern die Präsidentin des Kantonsspitals Freiburg, Annamaria Müller.
In einem Interview mit der «NZZ» sagte sie: «In Bern ist die Zahl der Luftröhrenschnitte explodiert. Innerhalb eines Jahres kam es zu einer Steigerung der Fälle im dreistelligen Prozentbereich. Medizinisch gab es keinen Grund dafür. Wir fanden heraus, dass dieser Eingriff plötzlich um ein Vielfaches höher vergütet wurde.»
Zahme Aufsicht
Rechtlich ist die Sache komplex. Das Heilmittelgesetz untersagt grundsätzlich Kick-backs bei verschreibungspflichtigen Medikamenten. Nicht unter das Gesetz fallen aber Medizinprodukte wie Implantate, Instrumente oder Apparate. Bei solchen sind Kick-backs laut Krankenversicherungsrecht dann zulässig, wenn die Rabatte an die Patienten oder die Versicherer zurückfliessen.
Bloss: In einem Land mit 37'000 Ärzten ist eine effektive Kontrolle kaum möglich. Die private Verwendung der Rabatte ist nach Auskunft von Brancheninsidern gang und gäbe. Vor allem bei kleineren Praxen bietet die Buchhaltung dafür hinreichend Schlupflöcher und Hintertürchen.
Der Prämienzahler blecht
Die Zeche begleicht letzten Endes oft der Prämienzahler – durch eine höhere Gesamtmenge an Leistungen – oder die Pharma- und Medtech-Branche, der Rückerstattungen entgangen sind.
Seit dem 1.Januar dieses Jahres wacht das Bundesamt für Gesundheit (BAG) darüber, dass die Rabatte nicht von einzelnen Medizinern kassiert, sondern weitergegeben werden. Man verfüge «über keine gesetzliche Handhabe, um die Kick-backs zu unterbinden», betont ein Sprecher. «Vielmehr geht es darum, dass die Vergünstigungen tatsächlich den Krankenversicherern respektive den Versicherten zugutekommen.»
Im Hinblick auf das Ausmass der Problematik tappt die neue Aufsichtsbehörde im Dunkeln: «Das BAG kann keine Angaben zur Verbreitung von Kick-back-Zahlungen machen.» Daran scheint sich auch künftig nichts zu ändern: Es sei, so heisst es, «kein spezifisches Monitoring diesbezüglich geplant».
Auch Kliniken schliessen solche Verträge ab. Das Unispital Zürich (UZH) hat keinen Deal mit Nevro, teilt aber mit, dass man durchaus Verträge mit Mengenrabatten habe. In einem Spital erübrige sich das Kontrollproblem, wird betont: «Bei stationären Patienten erfolgt die Rückvergütung innerhalb der Fallpauschale», weshalb die Rabatte «automatisch weitergegeben werden» – was auch für den ambulanten Bereich gelte. So wirken Kick-backs bei Spitälern sogar kostendämpfend.
«Richtlinien überprüft»
Der Bund weist auf die Transparenzpflicht hin. Preisrabatte seien in den Geschäftsbüchern auszuweisen und auf Anfrage dem BAG offenzulegen.
Die US-Zentrale von Nevro bestätigt: «Wir haben letztes Jahr im Zusammenhang mit einer internen Überprüfung unsere Richtlinien für Rabatte verschärft. Das steht im Einklang mit der Schweizer Gesetzgebung. Infolgedessen wurden einige Verträge in der Schweiz angepasst, um den neuen Unternehmensstandards zu entsprechen.» Man sei als weltweites Unternehmen «ständig bestrebt, ein Höchstmass an Compliance und Corporate Governance zu erreichen», so Nevro weiter, weshalb man die internen Richtlinien dauernd überprüfe. So reagiere man nicht nur auf Gesetzesänderungen, sondern so sei auch die beste Geschäftsmethode, best practice, gewährleistet.
Schweizer Politik plant Verschärfungen
Die Amerikaner dürften die Schweizer Bundespolitik gut im Auge haben – tatsächlich sind Verschärfungen geplant. So hat das Parlament im März 2019 eine Erweiterung des Kick-back-Verbots auf Medizinprodukte verabschiedet, die 2023 in Kraft treten soll.
Auch bei SP-Gesundheitsminister Alain Berset (47) scheint der Wille vorhanden. Er hat diese Woche angekündigt, mengenabhängige Boni für Spitalärzte verbieten zu wollen.
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