Foto: Valeriano Di Domenico

Bestattungsämter suchen oft vergebens nach Angehörigen
Hunderte Schweizer sterben jedes Jahr einsam

Wenn am Grab nur die Friedhofsgärtnerin steht, wird klar: Dieser Mensch war wohl sehr einsam, als er noch lebte. Genau so wie der Zürcher Alfred G. Eine Spurensuche.
Publiziert: 02.03.2019 um 23:59 Uhr
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Aktualisiert: 03.03.2019 um 09:27 Uhr
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Der Zürcher Alfred G. starb im vergangenen Jahr. Niemand vermisste ihn.
Foto: Illustration: Corina Vögele
Aline Wüst

Vier Löcher, daneben vier Urnen. Der Bestatter im Anzug ist bereit. Was fehlt, sind Menschen, die um diese Toten trauern. Wie etwa um Alfred G.* Er ist einer der Zürcher, die an diesem Tag auf dem Friedhof Nordheim bestattet werden – beim Begräbnis der Einsamen.

In der Schweiz finden jedes Jahr Hunderte von Menschen so ihre letzte Ruhe. 58 waren es allein in der Stadt Basel im vergangenen Jahr. In Bern sind es jährlich zwischen 50 und 70. Viele Städte führen keine Statistik. In manchen sind die Zahlen tiefer, weil die Bestattungsämter viel Aufwand betreiben, um Angehörige zu finden, in Zürich und Luzern beispiels­weise. Meldet sich 48 Stunden nach dem Tod einer Person niemand, suchen sie nach Angehörigen, Freunden, Bekannten. Nach 
irgendjemandem, der diesen Menschen kannte.

Die soziale Isolation nimmt zu

Für Rolf Steinmann, Leiter des Zürcher Bestattungs- und Friedhofamts, hat dies einen hohen Stellenwert. Verstorbene werden frühestens nach einem Monat für ein einsames Begräbnis freigegeben und kremiert. Das sei ein trauriger Moment, sagt Steinmann – «da geht 
jemand von dieser Welt und niemanden interessiert es».

Dass die Zahl der einsam Verstorbenen steigt, bestätigt Vincent Pascal, Leiter der städtischen Fried­höfe Luzern. «Es gibt immer mehr Menschen, bei denen wir aktiv nach Hinterbliebenen suchen müssen.» Waren es vor 25 Jahren höchstens zwei pro Monat, sind es mittlerweile fünf. Weshalb ist das so? Pascal sagt: Die Bevölkerung wird älter, die soziale Isolation nimmt zu.

Einsamkeit macht krank

Eine US-Studie aus dem Jahr 2015 stufte Einsamkeit als ebenso schädlich ein wie 15 Zigaretten am Tag. Bekannt ist auch, dass sie sich ausbreitet, aber oft unsichtbar bleibt. In Grossbritannien gibt es seit einem Jahr sogar ein Ministe­rium für Einsamkeit. Letztlich ist sie eben nicht nur ein persönliches, sondern auch ein volkswirtschaftliches Problem. Einsamkeit macht krank – sie kann Bluthochdruck, Depressionen und Angstzustände auslösen, greift das Herz an. Das kostet.

Wie sich Einsamkeit anfühlt, kann Alfred G. nicht mehr sagen. Doch wer sucht, findet doch noch Spuren seines Lebens. Auch da, wo täglich Tausende sind: am Hauptbahnhof in Zürich.

Alfred G. war Dienstmann, er trug die Koffer der Reisenden, die letzten Jahre als Selbständiger im Auftrag der umliegenden Hotels. Frühzeitig habe er seinen Handwagen jeweils auf dem Perron platziert, sich nochmals erkundigt, ob keine Gleisänderung vorliege, damit er die Koffer nach der Ankunft des Zuges sofort einladen konnte.

Als G. in seiner blauen Kutte zu arbeiten aufhörte, waren die Dienstmänner aus Zürich verschwunden. Ob er sich später hin und wieder die Rollkoffer am Bahnhof anschaute, die das Transportieren von Gepäck nun mühelos machten?

Allein und einsam

32 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer fühlen sich einsam (BFS/2012).

15 Zigaretten am Tag sollen etwa gleich schädlich sein wie Einsamkeit.

40 Prozent höher ist das Risiko für einsame Menschen, an Altersdemenz zu erkranken.

Ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer leben allein.

32 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer fühlen sich einsam (BFS/2012).

15 Zigaretten am Tag sollen etwa gleich schädlich sein wie Einsamkeit.

40 Prozent höher ist das Risiko für einsame Menschen, an Altersdemenz zu erkranken.

Ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer leben allein.

Einsamkeit ist schambehaftet

Weshalb die Einsamkeit im Leben so oft unsichtbar bleibt, weiss Franco Baumgartner, Geschäftsführer des Verbandes der Darge­botenen Hand: «Einsamkeit ist schambehaftet.» Bei jedem zehnten Anruf ist sie allerdings ein zentrales Thema, bei noch mehr Gesprächen schwingt sie mit. Doch weshalb schämt sich der Mensch dafür, einsam zu sein? Baumgartner sagt: «Es ist die menschliche Sehnsucht, Teil der Welt und mit anderen Personen verbunden zu sein.» Gelinge das nicht, fühlten sich viele als Versager.

Andererseits gehöre Einsamkeit zu jedem Leben. Die meisten finden gestärkt einen Weg aus diesen Phasen. Manche nicht. Die Dargebotene Hand kann für sie ein Rettungsanker sein, ein Lichtblick, um die momentane Einsamkeit zu durchbrechen. Das ist gut. Denn Einsamkeit ist lebensbedrohlich.

«Sich nicht eingebunden zu fühlen, ist einer der grössten Treiber für 
Suizid», sagt Baumgartner. Alfred G. lebte in einer kleinen Wohnung in Zürich. Die letzten vier Monate vor seinem Tod verbrachte er im Alterswohnheim. Mitgenommen hat er nur einen Sessel und seinen Gepäckträgerhut. Alfred lebte bescheiden, aber nicht verwahrlost. Er hörte gern Radio, fotografierte Architektur. 
Er galt als höflich, zuvorkommend, liebenswürdig.

Niemand sollte allein von dieser Welt gehen

Franco Baumgartner von der Dargebotenen Hand sagt: Gegen Einsamkeit helfen keine gut gemeinten Ratschläge oder gar Belehrungen. Den seelischen Schmerz könne die Bereitschaft von Mitmenschen lindern, einfach zuzuhören und das Gegenüber wahrzunehmen. Das könne auch bei einem kurzen Gespräch in der Migros sein. In dieser Hinsicht sei letztlich die ganze Gesellschaft gefordert.

Kontakt mit Menschen kannte Alfred G. vor allem in einer Rolle – als Diener. Dass der ehemalige 
Gepäckträger im Alterswohnheim selber bedient wurde, konnte er schwer annehmen. Keine Umstände wollte er machen, konnte nicht glauben, dass er Wünsche anbringen darf beim Essen, dass für ihn geputzt wird. Ein Gast war Alfred G. nur an seinem Lebensende.

Die Städte gehen unterschiedlich mit ihren einsam Verstorbenen um. Manche bestatten sie gemeinsam einmal im Jahr. In Luzern werden sie einzeln verabschiedet. Friedhofsgärtnerin Nicole Waldispühl spricht jeweils ein Vaterunser, gibt letzte gute Wünsche mit auf den Weg, legt die Urne in die Erde und versucht sich keine Gedanken da­rüber zu machen, warum sie allein am Grab steht.

Alfred G. ging nicht ganz allein.

An seinem Grab stand eine Frau – Tresa Derungs, Pflegefachfrau des Alterswohnheims. Als sie hörte, dass sich nach dem Tod des Dienstmanns niemand meldete, beschloss sie hinzugehen. Warum? «Niemand soll von dieser Welt gehen, ohne dass jemand dabei ist, der ihn auch im Leben kannte.»

*Name der Redaktion bekannt

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