Im beschaulichen Berner Schosshaldequartier fahren am Mittwoch plötzlich immer mehr Polizeiautos mit Blaulicht vor. Dann ist ein Schuss zu hören. Ein Polizist hat mit seiner Dienstwaffe auf einen 36-jährigen Mann geschossen. Die schwer verletzte Person stirbt wenig später im Spital.
Adrian Wüthrich ist Präsident des Polizeiverbands im Kanton Bern. Für ihn ist klar: «Dieser Einsatz entwickelte sich anders als gewöhnlich.»
«Da kommt viel zusammen»
In einem Haus am Kuhnweg stehen die Einsatzkräfte dem zuvor aus einer Abteilung der Psychiatrischen Dienste Bern geflüchteten Mann gegenüber. «Die Polizisten wollten die Rückführung erledigen, wie es ab und zu vorkommt. Die Schusswaffe bei der gesuchten Person änderte die Lage sofort.», sagt Wüthrich. Die Situation im Gebäude mit einer Person in diesem Zustand mit einer Waffe – da sei alles schwierig abzuschätzen für die Beamten. «Da kommt viel zusammen», meint Wüthrich.
Dass es dann zur Schussabgabe gekommen ist, bedauert der 39-jährige Präsident des Polizeiverbands. «Natürlich will niemand, dass jemand bei einem Polizeieinsatz ums Leben kommt. Die Polizisten müssen aber jeden Tag mit solch gefährlichen Situationen rechnen. Ich gehe davon aus, dass die Einsatzkräfte auch in diesem Fall verhältnismässig gehandelt haben.»
Ob sie das getan haben, beurteilt nun die Staatsanwaltschaft. «Rechtlich gesehen steht jetzt gegen den Polizisten, der geschossen hat, zuerst einmal der Vorwurf der vorsätzlichen Tötung im Raum», erklärt Wüthrich. Nach dem aufreibenden Einsatz sei das noch eine zusätzliche Belastung, die vermutlich bis zum Urteil andauern werde. «Wünschen es sich die Beamten, so können sie in solchen Situationen auch auf die Unterstützung des psychologischen Dienstes zurückgreifen. Die Situation ist für alle Involvierten schwierig.»
Erinnerungen an «finalen Rettungsschuss»
Der Einsatz der Berner Polizei am Mittwoch weckt auch Erinnerungen an den «finalen Rettungsschuss» von Chur. Es war am 26. März 2000, als ein damals 22-Jähriger während Stunden die Polizei mit einem Sturmgewehr in Alarmbereitschaft versetzte.
Das Vorgehen der Einsatzkräfte damals ist genauestens dokumentiert. Dazu gehörten: stundenlange Verhandlungen mit dem jungen Mann, das Vorschicken eines Polizeihunds sowie die Zündung einer Blendgranate und ein Schuss mit Schrotmunition. Weil sich der 22-Jährige aber auch davon nicht zur Aufgabe bewegen liess, gab der Bündner Polizeikommandant Markus Reinhardt den Befehl für den finalen Rettungsschuss – aus einer Notwehrsituation heraus, wie er selber später argumentieren sollte.
Reinhardt wurde danach von der Justiz freigesprochen, doch der Einsatz beschäftigte ihn weiter. Im Jahr 2010 beging er schliesslich Suizid. Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagten Leute aus dem Umfeld des Polizeikommandanten, der finale Rettungsschuss von damals habe ihn nie mehr losgelassen.