Arbeitsforscher Oliver Strohm über Boni, Druck und Vertrauen
Macht die Arbeitswelt wieder human!

Oliver Strohm (54) ist Partner und Mitgründer des Instituts für Arbeitsforschung und Organisationsberatung, das 1998 aus der ETH entstanden ist. Der Psychologe berät Firmen in den Bereichen Strategie, Organisation, Führung und Personalmanagement. Den Chefs sagt er: Vertraut euren Angestellten mehr!
Publiziert: 29.04.2018 um 14:06 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 01:55 Uhr
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Arbeitspsychologe Oliver Strohm sagt den Chefs: Vertraut euren Angestellten mehr!
Foto: Valeriano Di Domenico
Interview: Reza Rafi

Sie haben seit über 20 Jahren Einblick in verschiedenste Arbeitswelten. Hat der Druck auf die Menschen zugenommen?
Oliver Strohm: Eindeutig.

Woran liegt das?
Das Ausmass hängt natürlich von verschiedenen Rahmenbedingungen wie zum Beispiel der Branche ab. Generell haben sich Dynamik, Schnelligkeit und Unsicherheit im Arbeitsalltag erhöht. Dazu kommt eine zunehmende Widersprüchlichkeit von Zielen und Anforderungen.

Das heisst?
Man soll Qualität produzieren, aber immer schneller werden. Man soll sich mit dem Arbeitgeber identifizieren, während die Arbeitsverhältnisse instabiler werden. Man soll unternehmerisch denken, und gleichzeitig wird das Arbeitshandeln in verschiedenen Branchen immer stärker reglementiert und standardisiert.

Stellen Sie mehr psychische Probleme fest?
Absolut. Da gibt es teilweise erschreckende empirische Erkenntnisse. In Deutschland werden jährlich die Ursachen für Arbeitsabsenzen ausgewertet. Inzwischen folgt auf Erkrankungen des Skelett-Muskel-Systems die Diagnosegruppe von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten. Burnout und Erschöpfungsdepressionen haben enorm zugenommen.

Wie kann ein Arbeitgeber seine Mitarbeiter motivieren?
Auch wenn es vielleicht nicht sehr originell tönt: Durch die Gestaltung von humanen Arbeitsbedingungen.

Das bedeutet?
Arbeit sollte zunächst keine physischen Schädigungen und keine psychischen Beeinträchtigungen bewirken. Arbeit sollte jedoch insbesondere auch persönlichkeitsfördernd sein. Das heisst, die Fach-, Sozial- und Selbstkompetenz fördern und einen Beitrag zu einem positiven Selbstwertgefühl leisten. Eines unserer Schlüsselkonzepte sind selbstregulierte Teams: Man überträgt einen komplexen Leistungsauftrag einer Gruppe, die sich weitgehend selbst organisiert.

Wie wichtig ist die Erfolgsbeteiligung der Mitarbeiter?
Ich halte wenig von individuellen Leistungslöhnen. Viele Unternehmen setzen kleinkarierte Zielsysteme und Berechnungsverfahren ein. Das führt häufig zu mehr Ärger, Frustration und Konkurrenzverhalten als zu Zufriedenheit und dem Gefühl von Anerkennung. Aus psychologischer Perspektive eine schlechte Investition.

Lassen Sie den Leuten doch ihren Bonus!
Wenn man leistungs- und erfolgsabhängig honoriert, sollte das kollektiv erfolgen. Sonst empfehle ich situationsbezogene Prämien: Wenn zum Beispiel jemand ein Projekt aus dem Dreck zieht oder aus betrieblichen Erfordernissen spontan übers Wochenende arbeitet und diesen Mitarbeitenden zeitnah etwas auf den Tisch gelegt wird. Das müssen gar keine grossen Beträge sein. Aus der Forschung weiss man: ausserordentliches Arbeitsverhalten, das direkt honoriert wird und zu dem die Mitarbeitenden einen Bezug herstellen können, wiederholt sich.

Wenn das nur unser Chef liest.
Wieso? Streichelt er Sie nie?

Doch doch, manchmal.
Auch mit Geld?

Da hat er natürlich wenig Spielraum.
Verstehe, auch in Ihrer Branche haben sich die finanziellen Möglichkeiten stark eingeschränkt.

Lohnauswüchse prangert Strohm an.
Foto: Valeriano Di Domenico

Die Löhne der Spitzenmanager erreichen astronomische Sphären. Kann menschliche Arbeit für ein Unternehmen eine Million Franken wert sein?
Nein. Wobei eine Million ja noch eine relativ harmlose Summe darstellt. Da gibt es bekanntlich andere Auswüchse. Das sind entrückte Vorstellungen einer entrückten Klasse.

Wie erklärt der Psychologe, dass ein Millionär – wie im Fall Raiffeisen – alle Tricks ausschöpft, um noch mehr zu haben? Warum sagt der Mensch nicht: Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe?
Wer von Leuten umgeben ist, die einen dauernd bestätigen, kann selbstherrlich werden oder war immer schon narzisstisch veranlagt. Darüber hinaus tendieren Menschen bei Lohnvergleichen dazu, sich nach oben zu orientieren.

Kaum ein Volk geht so früh am Morgen zur Arbeit wie die Schweizer. Gesund?
Das ist zunächst individuell. Entscheidend sind flexible Arbeitszeiten und eine tolerante Arbeitszeitkultur. Die Zeiten, in denen die Nase gerümpft wird, wenn ein Kollege erst um halb 10 kommt, oder zu glauben, nur wer bis mindestens sechs Uhr im Büro sitzt, sei tüchtig und produktiv, sollten vorbei sein. Eine andere wichtige Möglichkeit zur Flexibilisierung sind Home-Office-Optionen: Da gibt es in der Schweiz noch eindeutig Luft nach oben.

Und der Mittagsimbiss vor dem Computer kann es ja nicht sein, oder?
Die Forschung gibt Ihnen völlig recht: längere Pausen wie auch Kurzpausen sind wichtig. Vor allem aber: Dass man dann auch Pause macht und abschaltet.

Wie wichtig sind Arbeitszeugnisse?
Das Thema ist verbraucht. Heute darf ja kein Arbeitszeugnis so formuliert werden, dass es die Zukunftschancen des Mitarbeitenden einschränkt. Damit ist nahezu jeder Ansatz von konstruktiver Kritik unmöglich geworden oder öffnet Tür und Tor für Rechtsstreitigkeiten.

Stellen Sie eine Zunahme von Streitfällen fest?
Quantitativ kann ich es nicht sagen. Aber wir treffen häufig auf diesbezügliche Konfliktsituationen. In der Regel verständigt man sich aussergerichtlich darauf, dass Formulierungen anders, positiver gewählt werden oder dass kritische Themen und Verhaltensbereiche einfach weggelassen werden.

Heute sind die Zeugnisse oft auch noch codiert.
Stimmt. Daher korrelieren die Aussagen und Bewertungen in Arbeitszeugnissen nur wenig mit dem beruflichen Erfolg, wie Untersuchungen zeigen. Wenn man fundiert etwas über einen Bewerber herausfinden will, sind andere Methoden wie strukturierte Interviews, Arbeitsproben, aber auch das zielgerichtete Einholen von Referenzen erheblich hilfreicher.

Sehen Sie auch das Mitarbeitergespräch so kritisch?
Ich finde es sehr wichtig, dass mindestens einmal im Jahr mit Zeit und Musse Rückblick und Ausblick gehalten wird. In einem Gespräch, auf das sich jeder vorbereitet, und bei dem sich gegenseitig gesagt wird, was positiv und negativ gelaufen ist und was man besser machen sollte. Das Mitarbeitergespräch ersetzt aber keine regelmässige Gesprächs- und Feedbackkultur zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden.

Was sind die grössten Fehler beim Mitarbeitergespräch?
Zu wenig Vorbereitung, zu wenig Klarheit, aber auch zu viel Lobhudelei. Konstruktive Kritik ist die hohe Schule bei der Gestaltung von Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden. Häufig treffe ich in Betrieben auf Küchenpsychologie, was die Vorstellungen darüber anbelangt, was Menschen brauchen, wie sie funktionieren, was man ihnen sagen darf und was nicht. Wenn das Mitarbeitergespräch zum oberflächlichen Gewäsch wird, kann man es lassen. Generell gilt: wahrhafte Wertschätzung ist Dünger, konstruktive Kritik ist Nahrung und Abwertung ist Gift.

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