Als Georg Manz (57) am frühen Morgen die Abteilung des Altersheims Englischgruss in Brig-Glis VS betrat, hörte er seine Mutter schon von weitem schreien: «Hilfe, Hilfe! Wo seid ihr? Ich muss aufs WC!»
Als er ins Zimmer seiner mittelschwer dementen Mutter trat, wurde ihm klar, dass sie sich im Fixationsgurt verheddert hatte, ihre Füsse steckten unter dem Gitter am Rand des Bettes. «Sie konnte sich nicht bewegen, nicht einmal an das Glas Tee auf dem Nachttisch kam sie heran und der Notrufknopf am Bettrand war für sie unerreichbar», schildert Manz, was er vor drei Wochen sehen musste.
Die Polizei alarmiert
Mit dem Handy fotografierte er die Notlage der hilflosen alten Frau. Die Mitarbeiter des Altersheims waren in ihrem Aufenthaltsraum auf der Station. «Erst als ich dort vorstellig wurde, kamen die Pflegerinnen meiner Mutter zu Hilfe.» Georg Manz, noch immer sichtlich wütend: «Da riss mir der Geduldsfaden.» Über die Notrufnummer alarmierte er die Polizei. Noch am selben Tag machte er eine Anzeige und wurde als Zeuge vernommen. Seine Mutter wurde daraufhin vom Altersheim ins nahe Spital verlegt.
So wie die Mutter von Georg und Gerhard Manz (58) werden täglich Hunderte Patienten in der Schweiz ihrer Freiheit beraubt. Mit Gittern, Gurten oder einer Zewi-Decke werden sie daran gehindert, aus dem Bett zu steigen oder umherzugehen. Oft werden Demenzpatienten einfach mit Medikamenten ruhiggestellt. Die Massnahmen werden in der Regel durch ein knappes Protokoll erfasst, von der Abteilungsleiterin bewilligt und die Angehörigen darüber informiert. Das wars.
Rund 25 Prozent aller Altersheimbewohner betroffen
Eine Expertenstudie, die der Dachverband für Heime und Institutionen (Curaviva) in Auftrag gab, kommt zum Schluss: In praktisch allen untersuchten Heimen wurden freiheitseinschränkende Massnahmen (FEM) angewendet, betroffen waren durchschnittlich rund 25 Prozent aller Bewohner.
Neben Fixationen sind betagte Menschen vielen anderen Zwängen ausgesetzt. Das zeigen bisher unveröffentlichte Zahlen der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA). 467 Meldungen gingen im letzten Jahr ein – fast zehn Prozent mehr als 2015.
Jede dritte Beschwerde betraf seelische Gewalt. «Dazu gehören Drohungen, Beschimpfungen oder generelle Herabwürdigungen betagter Menschen», sagt UBA-Geschäftsleiterin Ruth Mettler Ernst (53). Neun Prozent aller Meldungen monierten Grundrechtsverletzungen, nicht weniger als elf Prozent körperliche Übergriffe – von aktiver Vernachlässigung bis zu körperlicher Gewalt. «Die tatsächliche Zahl dürfte noch deutlich höher liegen», so Mettler Ernst. «Gewalt ist immer noch ein Tabuthema.» Viele Betroffene hätten Hemmungen, Übergriffe zu melden. Andere seien zu krank, um sich wehren zu können. «Deshalb muss das persönliche Umfeld genau hinschauen.»
Hohe Dunkelziffer
Aus den Zahlen der UBA geht hervor: Rund die Hälfte der Vorfälle fand in Institutionen statt. «Aber gerade in der häuslichen Pflege ist die Dunkelziffer hoch», so Ernst. «Wir schätzen, dass jeder fünfte Betagte von Gewalt betroffen ist.»
Die Dachorganisation Curaviva weiss: In Heimen, wo freiheitseinschränkende Massnahmen angewendet werden, wird dies vor allem von der Abteilungsleitung angeordnet. Tatsächlich dürfen gemäss dem seit 2013 geltenden Erwachsenenschutzrecht freiheitseinschränkende Massnahmen nur in Ausnahmefällen ergriffen werden. Curaviva unterstützt seine Mitglieder deshalb im Umgang mit dieser heiklen Thematik.
Ein Weiterbildungsprogramm der Curaviva namens Redufix zeigt Heimen, wie sie mit dementen Patienten umgehen können, ohne dass Gurte und Gitter zum Einsatz kommen. Als Alternativen werden etwa Bodenbetten, bauliche Massnahmen wie Gartenanlagen oder Bewegungstracker empfohlen.
«Pflicht zu grösster Zurückhaltung»
Die Heime stehen in der Pflicht, bewegungseinschränkende Massnahmen mit grösster Zurückhaltung einzusetzen – und nur dann, wenn weniger einschneidende Vorkehrungen nicht ausreichen», erklärt Markus Leser (58) von Curaviva. In Fällen, bei denen sich Angehörige über Fesselungen empören, liege oft ein Kommunikationsproblem vor: «Die Angehörigen müssen wissen, warum das Heim auf Fixierungen zurückgreifen will.» In der Heimbranche würden heute deutlich weniger Fixierungen angewendet als noch vor wenigen Jahren. Leser: «Es gibt keine Fachperson mehr, die nicht weiss, welche Alternativen vor einer Fixierung eingesetzt werden können.»
Inzwischen konnte sich die Mutter der Manz-Brüder zwei Wochen lang auf der Geriatrie-Abteilung des Spitals in Brig VS erholen. «Hier ist die Betreuung der Mutter besser», sagt Georg Manz. «Rund um die Uhr sind Betreuer vor Ort, die Betten sind ohne Fesseln und so eingerichtet, dass selbst bei einem Sturz aus dem Bett nichts passieren kann. Es geht ihr nun besser, sie spaziert mit einer Gehhilfe durch die Gänge.» Gerhard und Georg Manz wollen nun eine private Betreuung organisieren, die ihre Mutter bei Gerhard zu Hause betreuen wird.
Auf Anfrage von SonntagsBlick wollte sich das Altersheim Englischgruss in Brig-Glis nicht zur laufenden Strafuntersuchung und den verwendeten Fixationen äussern. Für Gerhard und Georg Manz ist klar: «In dieses Heim geht unsere Mutter nicht zurück.»
Gemäss dem neuen Erwachsenenschutzrecht dürfen freiheitseinschränkende Massnahmen nur ergriffen werden, wenn weniger einschneidende Vorkehrungen nicht ausreichen – oder von vornherein als ungenügend erscheinen. Das seit 2013 geltende Recht schreibt den Heimen ein klares Verfahren vor: Betroffene und deren Angehörige etwa müssen genau über die geplante Massnahme informiert werden, die ebenso exakt in einem Protokoll festgehalten sein muss. Betroffene können sich bei der Erwachsenenschutzbehörde über die Massnahme beschweren. Ein Recht, von dem kaum jemand Gebrauch macht: Laut den Behörden im Kanton Bern und der Stadt Zürich wurde es bisher je ein Mal beansprucht. Viel eindeutiger ist die Rechtslage in Deutschland: Hier muss jeweils ein Richter die Fesselung bewilligen.
Gemäss dem neuen Erwachsenenschutzrecht dürfen freiheitseinschränkende Massnahmen nur ergriffen werden, wenn weniger einschneidende Vorkehrungen nicht ausreichen – oder von vornherein als ungenügend erscheinen. Das seit 2013 geltende Recht schreibt den Heimen ein klares Verfahren vor: Betroffene und deren Angehörige etwa müssen genau über die geplante Massnahme informiert werden, die ebenso exakt in einem Protokoll festgehalten sein muss. Betroffene können sich bei der Erwachsenenschutzbehörde über die Massnahme beschweren. Ein Recht, von dem kaum jemand Gebrauch macht: Laut den Behörden im Kanton Bern und der Stadt Zürich wurde es bisher je ein Mal beansprucht. Viel eindeutiger ist die Rechtslage in Deutschland: Hier muss jeweils ein Richter die Fesselung bewilligen.
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