BLICK: Am Montag wurde bekannt, dass die Schweiz 60'000 Menschen unschuldig in Anstalten internierte. Was sagen Sie dazu?
Eveline Widmer-Schlumpf: Die Zahlen überraschen mich nicht. Sie sind aber sehr wichtig, weil sie zeigen, dass viel mehr als ein paar Einzelne betroffen sind. Die damalige Gesellschaft hat das zugelassen. Administrative Versorgung ist Teil der Schweizer Geschichte.
Lange blieb dieser Teil im Dunkeln. Seit wann wissen Sie davon?
In den 90er-Jahren war ich Mitglied einer Amtsvormundschaft. Dort kam ich erstmals mit dem Thema Verdingkinder in Kontakt. Schon damals beschäftigte mich dieses Thema. Zu der Zeit erfuhr ich, dass bis ins Jahr 1981 immer wieder schwer Erziehbare und Jugendliche, denen Liederlichkeit und Arbeitsscheue vorgeworfen wurde, in Strafanstalten gebracht wurden. Intensiv mit dem Thema beschäftigt habe ich mich ab 2008 nach Berichten im «Beobachter» sowie der Biografie von Ursula Biondi, einer Betroffenen. Aber eigentlich hätte ich schon viel früher davon erfahren sollen.
Weshalb?
Während meines ganzen Jurastudiums bis 1981 war das nie Thema an der Uni. Das hat mich im Nachhinein sehr betroffen gemacht. Ich war schon als Studentin ein kritischer Geist und wollte gerne alles ganz genau wissen. Als ich Ursula Biondi und andere Betroffene kennenlernte, dachte ich mir: Wie kann es sein, dass wir davon nichts gewusst haben?
Sie waren die Erste, die sich 2010 im Namen des Bundes bei den Opfern entschuldigt hat. Warum dauerte es so lange?
Es war ein gesellschaftlicher Prozess in der Schweiz. Das Thema brauchte Zeit, um an die Öffentlichkeit zu kommen. Und es brauchte Betroffene, die über Biografien und Medien auf das Unrecht aufmerksam machten. In meinem Departement und den Kantonen wurde das Anliegen zunächst kontrovers diskutiert. Verschiedene stellten sich auf den Standpunkt, dass die Massnahmen rechtens waren, weil sie auf damaligen Gesetzen basierten. Auch stand die Frage im Raum, wer überhaupt zuständig war – die Kantone oder der Bund.
Eveline Widmer-Schlumpf (63) bat 2010 die Opfer der administrativen Versorgung um Entschuldigung. Die Juristin gehörte während ihrer Zeit in der Landesregierung (2008–2015) zu den beliebtesten Bundesratsmitgliedern. Und war gleichzeitig ein rotes Tuch für die SVP. Durch ihre Wahl nach Bern hatte Widmer-Schlumpf die Abwahl von Noch-Parteikollege Christoph Blocher (77) ermöglicht. Die SVP schloss daraufhin die Bündner SVP aus der Partei aus, worauf sich einige Berner und Glarner ebenfalls abspalteten: Die BDP war geboren. Seit 2017 ist sie Präsidentin der Stiftung Pro Senectute.
Eveline Widmer-Schlumpf (63) bat 2010 die Opfer der administrativen Versorgung um Entschuldigung. Die Juristin gehörte während ihrer Zeit in der Landesregierung (2008–2015) zu den beliebtesten Bundesratsmitgliedern. Und war gleichzeitig ein rotes Tuch für die SVP. Durch ihre Wahl nach Bern hatte Widmer-Schlumpf die Abwahl von Noch-Parteikollege Christoph Blocher (77) ermöglicht. Die SVP schloss daraufhin die Bündner SVP aus der Partei aus, worauf sich einige Berner und Glarner ebenfalls abspalteten: Die BDP war geboren. Seit 2017 ist sie Präsidentin der Stiftung Pro Senectute.
Niemand wollte schuld sein.
Für mich war die Frage nach den Schuldigen irrelevant. Ich bin überzeugt, dass auch künftige Generationen Verhalten in Frage stellen, das heute rechtens ist. Ich finde es falsch, Einzelnen eine Schuld anzulasten.
Und trotzdem haben Sie sich im Namen des Bundes entschuldigt.
Es sind nicht Einzelpersonen schuld daran, es ist ein gesellschaftliches Unrecht.
Wie meinen Sie das?
Ich habe eine Bekannte, die in der Strafanstalt Hindelbank gearbeitet hat. Sie wehrte sich dagegen, von der Gesellschaft dafür verurteilt zu werden. Das wäre tatsächlich auch falsch. Viele Beteiligte haben einfach das damals geltende Recht angewandt. Die Frage ist, wie eine Gesellschaft mit einem dunklen Teil ihrer Geschichte umgeht. Es geht darum, dass man gemeinsam anerkennt, dass zu Unrecht Leid zugefügt worden ist. Eine Entschuldigung war für mich und die Vertreter der Kantone der richtige Weg.
Warum übernahmen gerade Sie als erstes Bundesregierungsmitglied Verantwortung?
Ich lernte ehemalige Fahrende kennen, die im Rahmen der Aktion «Kinder der Landstrasse» ihren Eltern weggenommen worden sind. Da gibt es Parallelen: Man nimmt jemanden aus einem sozialen Umfeld heraus und verpflanzt ihn irgendwohin, wo er nicht mehr als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft angesehen wird. Dass sich Bundespräsident Alphons Egli 1986 bei diesen Kindern entschuldigt hat, berührte und freute mich. Ich hatte immer das Gefühl, wenn Unrecht passiert ist, muss man hinstehen und dieses beim Namen nennen.
Was bedeutete Ihnen die Entschuldigung, die Sie vor neun Jahren im Frauengefängnis Hindelbank abgaben?
Ich habe mit vielen Frauen gesprochen, die dort zwangsversorgt wurden. Sie alle lebten mit einem Stigma. Wenn sie bei einem Vorstellungsgespräch sagten, dass sie in Hindelbank gewesen waren, waren sie abgestempelt. So wurden sie ständig an ihre Vergangenheit erinnert und fühlten sich minderwertig.
Sie haben sich gezielt für Hindelbank entschieden.
Mit meiner Anwesenheit dort wollte ich ein Bewusstsein dafür schaffen, dass in Anstalten wie Hindelbank nicht nur Strafgefangene einsassen, sondern auch Frauen, die ohne Gerichtsverfahren dort waren. Der Ort war wichtig als Zeichen, damit sie dieses Stigma endlich ablegen konnten. Weil sie stigmatisiert waren und so lange schweigen mussten, konnten sie das Erlebte lange nicht verarbeiten.
Sind Sie im Rückblick mit der Entschuldigung zu wenig weit gegangen?
Die öffentliche Anerkennung des Unrechts und die Entschuldigung für das erlittene Leid sollten eine moralische Wiedergutmachung sein. Damals war eine finanzielle Wiedergutmachung noch kein Thema, auch bei den meisten der Betroffenen nicht. Das kam später im ganzen Verarbeitungsprozess.
Manche der ehemals Zwangsversorgten, die mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gingen, beschimpfte man als Landesverräter. Mussten auch Sie Kritik einstecken?
Nein, nicht wegen meines Engagements für die administrativ Versorgten. Verschiedenen Angriffen ausgesetzt war ich in jener Zeit aus anderen Gründen.