Administrative Versorgung – jetzt gibt es Opferzahlen
Zehntausende versorgt und vergessen!

Bis spät ins letzte Jahrhundert hinein sperrte der Staat unschuldige junge Menschen weg. Jetzt weiss man: Es waren Zehntausende!
Publiziert: 20.05.2019 um 07:32 Uhr
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Aktualisiert: 20.05.2019 um 16:40 Uhr
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Die neusten Zahlen zeigen: Die Schweiz steckte im 20. Jahrhundert bis zu 60'000 junge Menschen unschuldig in Gefängnisse, Erziehungsanstalten und Psychiatrien.
Foto: Keystone
Rebecca Wyss

Es ist ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte. Nun kennen wir zum ersten Mal das Ausmass: Alleine nach 1930 versorgte der Schweizer Staat zwischen 20'000 und 40'000 Menschen unschuldig in Anstalten. Eine Unabhängige Expertenkommission (UEK) arbeitete den Skandal seit 1930 auf. Für das ganze 20. Jahrhundert rechnet sie sogar mit 60'000 Opfern, wie die «NZZ am Sonntag» schreibt.

Gemäss dem Experten für die Schätzung der Opferzahlen, Ernst Guggisberg, erreichte die Versorgung in den 30er-Jahren einen Höhepunkt – mit durchschnittlich 1230 Einweisungen pro Jahr. Die grosse Wirtschaftskrise riss viele in die Arbeitslosigkeit. Der Staat nutzte die Möglichkeit, um gegen Bürger vorzugehen, die nicht ins Gesellschaftsbild passten. «Wer nicht den damaligen gesellschaftlichen Normen entsprach, sollte in Anstalten durch Arbeit gebessert werden», sagt Guggisberg.

Genugtuung für Betroffene

Für die Aktivistin Ursula Biondi (69), die als 17-Jährige selbst unschuldig für ein Jahr ins Frauengefängnis Hindelbank eingewiesen wurde, ist die Aufarbeitung eine Genugtuung. «Jetzt kann niemand mehr leugnen, dass der Staat im grossen Stil aus Zigtausenden von jungen Menschen seelische Krüppel machte.» Biondis einziges «Vergehen»: Sie wurde schwanger, ohne verheiratet zu sein. Das war damals eine Schande. Mit ihrem langjährigen Kampf trug sie später dazu bei, dass 2014 das Bundesgesetz zur Rehabilitierung entstand.

Schicksale wie das von Ursula Biondi gibt es Zehntausende in der Schweiz. Junge Frauen und Männer wurden bis 1981 in Anstalten weggesperrt. Ohne dass sie eine Straftat begangen hätten. Ohne dass je ein Richter über sie geurteilt hätte. Nur weil sie in den Augen des Staates «liederlich», «trunksüchtig» und «arbeitsscheu» waren.

Der Weg zur Rehabilitierung

Erst 1981 wurden die administrative Versorgung abgeschafft – auf Druck der Europäischen Menschenrechtskonvention! Und erst 2010 entschuldigte sich Eveline Widmer-Schlumpf im Namen des Bundes bei den Opfern. Drei Jahre später trat das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen in Kraft. Das ermöglichte die Rehabilitierung, die wissenschaftliche Aufarbeitung und Zahlungen von 25 000 Franken für jedes Opfer. Für letzteres haben sich jedoch nur 9000 Opfer gemeldet. UEK-Expertin Ruth Ammann sagt: “Manche waren nicht fähig, weil sie die Kraft nicht hatten.” Körperlich und psychisch. Andere wollten sich nicht outen – wegen des Stigmas. (wyr)

Erst 1981 wurden die administrative Versorgung abgeschafft – auf Druck der Europäischen Menschenrechtskonvention! Und erst 2010 entschuldigte sich Eveline Widmer-Schlumpf im Namen des Bundes bei den Opfern. Drei Jahre später trat das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen in Kraft. Das ermöglichte die Rehabilitierung, die wissenschaftliche Aufarbeitung und Zahlungen von 25 000 Franken für jedes Opfer. Für letzteres haben sich jedoch nur 9000 Opfer gemeldet. UEK-Expertin Ruth Ammann sagt: “Manche waren nicht fähig, weil sie die Kraft nicht hatten.” Körperlich und psychisch. Andere wollten sich nicht outen – wegen des Stigmas. (wyr)

Nach der Versorgung fassten viele nie wieder Tritt im Leben

Besonders gefährdet war, wer in armen Verhältnissen aufwuchs, aus einer jenischen Familie stammte, im Heim aufgewachsen war oder unehelich zur Welt kam. Menschen, am Rande der Gesellschaft. Nach der Versorgung ging das Leiden weiter. Viele wurden chronisch krank, lebten in Armut, kämpften jeden Tag mit dem Trauma – und fassten nie wieder Tritt, einige nahmen sich das Leben.

Die Versorgung prägte das Leben der Opfer, wie die Historikerin Ruth Ammann und ihr UEK-Team festgestellt haben. Sie werteten Interviews von 58 Betroffenen aus. Ammann sagt: «Egal, wie normal ihr Leben heute ist, unsere Interviewpartnerinnen und -partner leiden alle irgendwie unter den Folgen.»

Für Ursula Biondi steht die Schweiz nun weiter in der Verantwortung. Sie fordert, dass die Forschungsergebnisse in den Schulbüchern niedergeschrieben werden. «Damit unser Leid nie vergessen wird. Und damit so etwas nie wieder passieren kann.»

Für Betroffene in prekären Verhältnissen fordert sie zudem eine Rente bis ans Lebensende oder einen Steuererlass, eine Mietzinsreduktion und ein Zweite-Klasse-GA. Und zum Schluss noch dies: Einen runden Tisch für die Nachfolgegenerationen der Opfer.

Das ist administrative Versorgung

Unter administrativer Versorgung versteht man die Praxis von Behörden, junge Männer und Frauen in Zwangsarbeitsanstalten, Psychiatrien, Strafanstalten oder Erziehungsheime einzusperren. Ohne dass diese eine Straftat begangen hätten. Nur weil sie gegen soziale Normen verstiessen. Mit den Massnahmen wollte man sie umerziehen. Diese Entscheide fielen nicht etwa Richter und Staatsanwälte. Sondern Hausfrauen, Buchhalter oder Bäcker am Feierabend als Gemeinderäte, Schulkommissionsmitglieder oder Vormünder.

Unter administrativer Versorgung versteht man die Praxis von Behörden, junge Männer und Frauen in Zwangsarbeitsanstalten, Psychiatrien, Strafanstalten oder Erziehungsheime einzusperren. Ohne dass diese eine Straftat begangen hätten. Nur weil sie gegen soziale Normen verstiessen. Mit den Massnahmen wollte man sie umerziehen. Diese Entscheide fielen nicht etwa Richter und Staatsanwälte. Sondern Hausfrauen, Buchhalter oder Bäcker am Feierabend als Gemeinderäte, Schulkommissionsmitglieder oder Vormünder.

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