1. August
Föderalismus am Strassenrand: Die Schweiz und ihre Gebührensäcke

Die Schweiz - ein Land der unterschiedlichen Reglemente, Gebühren und Systeme, auch bei einem alltäglichen Thema wie dem Abfallsack. An den Strassenrändern dieses Landes spiegelt sich quasi der Föderalismus.
Publiziert: 29.07.2018 um 09:00 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 18:08 Uhr
Vielfalt in der Einheit in der Schweiz: Auch bei den Abfallsäcken. Blau sind die Gebührensäcke in Bern, anderswo sind sie beispielsweise weiss, rot oder schwarz. (Archivbild)
Foto: KEYSTONE/LUKAS LEHMANN

Wie eigenständig Gemeinden und Regionen in der Schweiz sind, zeigt sich an den Strassenrändern: Beim Entsorgen geniessen die Behörden gestalterische Freiheit. Mal sind die gebrauchten Joghurtbecher und Wattestäbchen in einen nüchternen Verwaltungsakt verpackt, manchmal warten sie in gestalterischen Finessen auf ihre letzte Reise.

Die Stadt Bern zeigt auf den Gebührensäcken ihre Skyline, Zürich setzt auf hygienisches Weiss und den Züri-Leu und im Kanton Nidwalden stehen Säcke in fröhlichem Rot an der Strasse. Im Oberwallis hat der Gebührensack sogar ein Gesicht.

Die in der Bundesverfassung festgehaltene «Vielfalt in der Einheit» offenbart sich beim Gebührensack bereits in der Nachbargemeinde. Die gehört vielleicht schon einem anderen Abfallverbund an, der - auch das typisch Schweiz - wohl ebenfalls gut funktioniert. Dass die Säcke überall unterschiedlich teuer sind, versteht sich von selbst.

Der Gebührensack ist auch wegen seiner Herkunft ein Anschauungsobjekt in Sachen Föderalismus: Die Idee, Abfall in kostenpflichtigen Säcken zu sammeln und die Entsorgungskosten so dem Verursacher aufzubürden, entstand nicht beim Bund, sondern in einer Stadt.

Bereits im Jahr 1975, also vor 43 Jahren, sagten die St.Galler Stimmberechtigten Ja zum Gebührensack. Als «Willkommensgeschenk» zum neuartigen System erhielten alle Haushalte zwei Kehrichtsäcke gratis.

Vor drei Jahren beging St.Gallen das 40-jährige Jubiläum dieser Pioniertat. Die Feierlichkeiten zeigten, dass die Stadt ein fast schon liebevolles Verhältnis zu «ihrem» Sack hat. Die Einwohner waren aufgerufen, «Sackies» zu schiessen, Selfies mit einem Sack. Für das beste Bild gab es eine VIP-Tour mit einem Kehrichtwagen.

Bis sich die Pioniertat aus der Ostschweiz im ganzen Land durchsetzte, brauchte es mehrere Jahrzehnte. Die Einführung glich - auch das typisch Schweiz - einem Flickenteppich.

Während sich eine Gemeinde einem Verbund anschloss, wollte die nächste nichts davon wissen. Dies führte zu einem neuen, unerwünschten Phänomen: Allzu kostenbewusste Schweizer fuhren mit dem voll beladenen Auto ins Nachbardorf und warfen ihren Abfall dort gratis weg. Der Abfalltourismus war geboren.

Heute, wo fast alle Kommunen Gebührensäcke haben, ist das Thema Abfalltourismus zum Glück praktisch vom Tisch, wie es beim Städteverband auf Anfrage hiess. Die Abfallmenge pro Person habe um etwa 30 Prozent abgenommen, weil mehr rezykliert werde. Dies liegt nicht nur am gesteigerten Umweltbewusstsein, sondern auch am Sparwillen. Weniger Abfall heisst auch weniger Säcke kaufen.

Während im Jahr 2000 die meisten Deutschschweizer Gemeinden Gebührensäcke eingeführt hatten, tat sich gegen Westen jedoch ein Güsel-Graben auf: Mehrere Kantone der Westschweiz lehnten die Gebührensäcke rundheraus ab. Im Kanton Waadt beispielsweise waren es die Linken, die gegen die «unsoziale Gebühr» kämpften.

Zugeschüttet wurde der Graben erst durch das Bundesgericht, das die Waadtländer und Neuenburger Gemeinden zu diesem System verknurrte. Per Anfang 2018 folgte schliesslich auch noch das Unterwallis - ebenfalls nur widerwillig aufgrund eines Bundesgerichtsurteils.

Auch das Tessin tat sich schwer mit der «Zwangsgebühr». Das Volk sagte im Mai 2017 aber schliesslich doch noch Ja. An den Strassenrändern stehen die Säcke zwar noch nicht in allen Gemeinden, doch sie sind beschlossene Sache. Die landesweite Einführung des Gebührensacks dauerte unter dem Strich somit stolze 43 Jahre.

Ganz Gallien? Nein. Ein nicht ganz so kleines Dorf im Westen will auch in Zukunft nicht mitmachen. Die Genfer Gemeinden setzen weiterhin auf eine Verrechnung über Steuern oder eine Pauschalgebühr - und Freiwilligkeit. Obwohl das Bundesgericht genau dies für nicht zulässig erachtet, weil es dem Umweltgesetz widerspricht.

Um dem Druck der Bundesrichter zu entgehen, liess die Genfer Regierung hunderttausend Komposteimer verteilen. Sie hofft nun, dass die Genferinnen und Genfer freiwillig Abfall trennen.

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