Die USA erlitten im Jahre 2001 ihr Nine-Eleven – die erste Attacke auf US-Festland seit Pearl Harbor 1941 – und beide Male reagierte die Supermacht mit Gegenangriff. Im Zweiten Weltkrieg halfen die USA entscheidend mit, im Namen der Freiheit Europa vom Joch des Faschismus und Nationalsozialismus zu befreien.
60 Jahre später riss die republikanische Bush-Regierung den Irak-Krieg vom Zaun, hinterliess ein politisches Chaos im Land, welches zur Brutstätte für Terroristen des Islamischen Staates (IS) heranwachsen konnte, die im Jahre 2015 ein europäisches Nine-Eleven zu verantworten haben: Zunächst den Terrorakt auf die französische Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» und am Freitag, 13. November die feigen Morde in Paris.
Europäische Politiker reagierten mit beschwörenden Worten. Die westlichen Werte, die Freiheit der offenen Gesellschaften würden über den Terror siegen. Es sind Worte der Hilflosigkeit.
«Europa redet sich Mut ein wie ein Kind, das aus Angst vor dem Gewitter Blitz und Donner anbrüllt», schreibt Springer-Chef Mathias Döpfner in der «Welt», «Europa ist geschwächt. Schlimmer: Europa ist schwach.»
Zu schwach um die Werte des Westens gegen den militanten Islamismus zu verteidigen? Europa, der wieder einmal taumelnde Kontinent?
Sicher scheint: Das Jahr 2015 wird als historischer Markstein in die Geschichte eingehen, als Menetekel für das drohende Ende einer knapp 250-jährigen Entwicklung, während der sich das christlich-westliche Wertesystems herauskristallisiert hat: Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte als Voraussetzung für individuelle Freiheit und Menschenwürde.
Jetzt, wo die Mörderbanden des IS ihren Terror in die europäischen Metropolen tragen, sind die Werte des Westens gefährdet wie nie und die Zweifel gross, ob die westliche Welt noch die Kraft aufbringt, diese zivilisatorischen Errungenschaften gegen die Barbaren des Terrors zu verteidigen.
Deshalb steht für mich die Jahreszahl 2015 in einer Linie mit grossen Daten der Welt-geschichte. Solchen wie 1776, 1789, 1945, 1989. Und Nine-Eleven 2001.
1776: Die Unterzeichnung der ersten Menschenrechtserklärung im amerikanischen Virginia formulierte bedeutsame Grundrechte wie Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Wahlrecht, Presse- und Religionsfreiheit, die 1789 in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung einflossen.
Beides bildet das Fundament für Demokratie, für das «normative Projekt des Westens», wie der deutsche Historiker Heinrich August Winkler das nennt und auch für die offene Gesellschaft, die nun durch den militanten Islamismus herausgefordert ist.
1945 waren es die grossen westlichen Demokratien USA, England, Frankreich – sekundiert von der kommunistischen Sowjetunion –, die Deutschland vom Joch der Nazis befreit haben: Dies, nachdem sich gegen Ende der Weimarer Republik eine Mehrheit der Deutschen von der Demokratie abgewendet hatte und jenen Sonderweg beschritt, der direkt in die Barbarei führte. Erst die Stunde null brachte Westdeutschland die nachhaltige Demokratie.
Als 1989 die UdSSR zusammenbrach, die Wiedervereinigung Realität wurde, breiteten sich die Werte des Westens über Ostdeutschland hinaus bis in die ehemaligen kommunistischen Satellitenstaaten aus und der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama proklamierte «das Ende der Geschichte»: Der totale Sieg der liberalen Demokratie über die totalitären Alternativen von Faschismus und Kommunismus.
Heute wissen wir: Die Vorstellung einer linearen historischen Entwicklung hin zu universell geltenden Menschenrechten, die das Ende einer an Konflikten und Kriegen reichen Geschichte markieren könnten, ist eine irrige.
Mehr noch: Bereits die ersten Proklamatoren von universell geltenden Menschenrechten haben eklatant gegen ebendiese verstossen. Die ersten Unterzeichner 1776 in Virginia waren zum grossen Teil Sklavenhalter, und als George W. Bush nach Nine-Eleven in den Irak einmarschierte, brach er in ebenso eklatanter Weise das Völkerrecht. Und das wirkte als Brandbeschleuniger für militante Islamisten des IS, die nun morden in Europa.
Die Globalisierung des islamischen Terrors wiederum befeuert jene Flüchtlingswelle, die den alten Kontinent zu spalten droht und gleichzeitig eskaliert der Ost-West-Konflikt mit dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin um die Ukraine. All dies trifft ein Europa, welches die Schuldenkrise noch längst nicht überwunden hat.
Es grassiert ein neuer Kulturkampf. Auf der einen Seite steht der Nachlass der abendländischen Aufklärung, der Ideen von Voltaire und Kant, Vordenker einer Trennung von Kirche und Staat als Voraussetzung von Freiheit und Demokratie.
«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit», so der deutsche Philosoph Immanuel Kant, «Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.» Und von seinem französischen Pendant Voltaire stammt der Spruch: «Écrasez l’infâme», «Zerschmettert die Niederträchtige» – ein antiklerikaler Schlachtruf gegen die religiöse Bevormundung im 18. Jahrhundert.
Auf der anderen Seite stehen militante Islamisten und autoritäre religiös verbrämte Regime mit antiwestlicher Schlagseite wie in Russland. Im Islam hat es nie eine Aufklärung gegeben, folglich auch nie die Unterscheidung von irdischen und göttlichen Gesetzen. «Solange Menschenrechte nur nach Massgabe der Scharia gelten, ist eine pluralistische, zivilgesellschaftliche Entwicklung unmöglich», sagt Historiker Winkler.
Und in Russland paktiert Putin mit der orthodoxen Kirche. Sie pflegen den Mythos von Moskau als Zentrum einer globalen Grossmacht, als religiösen Hotspot, einer Art drittes Rom, moralisch dem dekadenten Westen überlegen. Vor diesem Hintergrund ist Putins Annexion der Krim 2014 zu sehen – erstmals seit 1945 hatte sich eine Grossmacht in Europa souveränes Staatsgebiet einverleibt.
Vor dieser Topografie stehen westliche Demokratien vor der Schicksalsfrage: Wie Freiheit und Lebensart verteidigen?
Oder ist es dafür bereits zu spät, und die Entwicklung führt zwangsläufig in jene «Unterwerfung», die der französische Schriftsteller Michel Houellebecq so beklemmend beschrieben hat: Frankreich im Jahr 2022, regiert von einem Muslim, der in der Grande Nation die Scharia einführt?
Eine Fiktion ists, aber eine, die im ausgehenden Jahr 2015 plötzlich Spurenelemente von Realität enthält. Noch vor etwas mehr als sieben Jahrzehnten, als die Freiheit ernsthaft in Gefahr war, stand der demokratische Westen weitgehend geeint auf – das Resultat war unter einem gewaltigen Kraftakt die Landung der Alliierten in der Normandie und der Sieg über Adolf Hitler. Während der Operation D-Day, die am 6. Juni 1944 begann, wusste kein Mensch, ob diese Erfolg haben würde. Aber jedem war klar: Es ging um Freiheit oder Unterwerfung.
Um Freiheit oder Unterwerfung geht es auch heute – in einer anderen Welt freilich und kaum mehr ortbaren Feinden der westlichen Freiheit. Die Schläfer leben mitten unter uns, besitzen mitunter die gleiche Staatsangehörigkeit wie wir und nutzen die Offenheit unserer Gesellschaft fast schon höhnend für ihr verbrecherisches Morden – für militante Islamisten ein letzter Beweis für westliche Dekadenz.
Mit Armeen ist dem nicht mehr beizukommen. Mit Unentschlossenheit freilich auch nicht. Mit einer solchen Haltung spielt Europa nicht nur den militanten Islamisten in die Hände, sondern auch jenen rechten und linken Populisten, die bei jeder politischen Radikalisierung aus ihren Löchern kriechen: Auch damit hat der alte Kontinent im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts seine Erfahrungen gemacht. Zuerst kommen die Bürgerwehren, dann der Bürgerkrieg.
Aufklärung, Rechtsstaat und Menschenrechte werden nicht zuletzt auch beim Umgang mit Flüchtlingen verteidigt. Niemand kann bei funktionierendem Verstand ernsthaft davon ausgehen, dass die europäische Gesellschaft in der Lage sein wird, auf Dauer Millionen von Flüchtlingen aufzunehmen ohne Verlust an Identität und ökonomischem Schaden.
Die deutsche Willkommenskultur ist keine Position der Stärke, sondern der Kopflosigkeit. Die Position der Stärke wäre: Flüchtlingen aus Kriegsgebieten und an Leib und Leben Bedrohten weiterhin Asyl zu gewähren – dies sind wir unserer humanitären Tradition schuldig.
Wirtschaftsflüchtlinge und Asylbewerber aus sicheren Drittländern sind aber ebenso konsequent abzulehnen. Die Position der Stärke wäre: Den ungehinderten Einmarsch in die westlichen Sozialsysteme zu unterbinden, indem die ökonomischen Anreize entsprechend abgesenkt werden – dies sind wir nicht zuletzt der eigenen Bevölkerung schuldig. Und schliesslich benötigt Europa eine gemeinsame, auch transatlantische Sicherheitspolitik. Nur Schwächlinge verteidigen sich nicht.
Vom französischen Ideengeschichtler Tzvetan Todorov stammt der Satz: «Ohne Europa keine Aufklärung, aber auch: ohne Aufklärung kein Europa.»
Der Mann weiss, wovon er spricht. Der gebürtige Bulgare verbrachte seine Jugend in der kommunistischen Diktatur, und er war es auch, der 2006 in Paris eine Ausstellung über die Aufklärer des 18. Jahrhunderts und deren Bedeutung für die Kulturkämpfe der Gegenwart kuratiert hatte.
Und von einem der Vordenker der Aufklärung, dem britischen Philosophen John Locke, stammt die Erkenntnis, dass Regierungen die Rechte der Menschen zu beschützen hätten. Andernfalls sei eine Rebellion gegen sie legitim. Auf den heutigen Kontext übertragen, liesse sich argumentieren: Passivität verletzt die Rechte der Menschen ebenso. Ob Locke für diesen Fall auch eine Rebellion gegen Autoritäten für legitim hielte?