Vor ein paar Tagen posteten Sie auf Instagram ein Selfie mit Maske im Zug. Tragen Sie im öffentlichen Verkehr jetzt immer Mundschutz?
Darius Rochebin: Nicht immer, aber auf dem Foto war ich im TGV auf dem Weg nach Paris. In Frankreich ist der Mundschutz in Verkehrsmitteln Pflicht – und der Kontrolleur prüfte nicht nur mein Billett, sondern zwang mich, die Maske so zu justieren, dass sie die Nase vollständig bedeckte! (Lacht)
In der Deutschschweiz trägt kaum ein Fahrgast Maske. Wie sieht es in der Romandie aus?
In der Westschweiz sieht man mehr Maskenträger. Ich stellte den Unterschied fest, als ich in den letzten Tagen gereist bin. Ich beobachtete in der Romandie besorgte Reaktionen, die ich in der Deutschschweiz nicht gesehen habe. Leute, die sogar den Kontrolleur bitten, das Ticket zu prüfen, ohne es in die Hand zu nehmen!
Darius Rochebin (53) ist der bekannteste Journalist des Westschweizer Fernsehens. Er ist seit 20 Jahren «Tagesschau»-Moderator und interviewt in seiner Kultursendung «Pardonnez-moi» Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland. Rochebin stammt ursprünglich aus dem Iran und wohnt in Genf.
Darius Rochebin (53) ist der bekannteste Journalist des Westschweizer Fernsehens. Er ist seit 20 Jahren «Tagesschau»-Moderator und interviewt in seiner Kultursendung «Pardonnez-moi» Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland. Rochebin stammt ursprünglich aus dem Iran und wohnt in Genf.
Gestern machte die Schweiz einen grossen Schritt: Die meisten noch verbliebenen Einschränkungen wurden aufgehoben. Wie ist jetzt die Stimmung jenseits des Röstigrabens?
Die meisten Leute sind inzwischen viel beruhigter. Aber erst seit kurzer Zeit. In den letzten Wochen habe ich immer noch viele Bild- oder Textnachrichten von Zuschauern erhalten, die Versammlungen von Nachbarn oder jungen Leuten anprangerten!
Der Corona-Graben ist also wieder zugeschüttet?
Er klafft nicht mehr ganz so tief. Aber die Angst in der Romandie ist weiterhin gross. Viele Romands behalten die Corona-Gewohnheiten bei; sie fahren selten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, gehen wenig ins Restaurant. Soweit ich das beurteilen kann, ist das Virus in der deutschsprachigen Schweiz weniger in den Köpfen der Menschen präsent.
Letzte Woche plädierten Deutschschweizer Gastronomen, Lehrer und Politiker dafür, die Zwei-Meter-Regel fallen zu lassen oder zumindest zu lockern. Gibt es ähnliche Forderungen in der Romandie?
In der französischsprachigen Schweiz gibt es diese Art Forderungen nicht. Ein Teil der Bevölkerung befürchtet eine zweite Welle der Infektionen. Man spürt allerdings, dass die Regeln lockerer genommen werden.
Den Corona-Graben gab es in allen Etappen der Krise. Schon früh forderten Romands strengere Massnahmen. Warum?
Französische Spitäler, nur zwanzig Autominuten vom Schweizer Jura entfernt, waren überlastet. Das wirkte beängstigend. Es gab eine allgemeine Dramatisierung. Viele Experten sagten, das italienische Szenario wäre unvermeidbar, das sei nur eine Frage von Tagen. Ich erinnere mich an eine Situation mit der Waadtländer Regierungspräsidentin Nuria Gorrite. Kurz vor Sendungsbeginn fragte sie ihren Stabschef am Telefon nach den prognostizierten Todeszahlen. Sie lagen bei 4000 – alleine im Kanton Waadt!
Stand Samstag gab es 300 laborbestätigte Corona-Todesfälle in der Waadt ...
Ja! Es ist bekannt, dass Prognosemodelle mit Vorsicht zu interpretieren sind. Daher habe ich die Zahl damals nicht öffentlich genannt. Aber diese Episode zeigt, welche Stimmung damals bei der Führung des grössten Westschweizer Kantons geherrscht haben muss. Gorrite sagte in derselben Sendung mit Tränen in den Augen: «Wir müssen entscheiden, ob wir die Menschen in den Tod oder in die Arbeitslosigkeit schicken.» Solche Aussagen prägen die Reaktion der Leute.
Die Romandie ist nebst dem Tessin viel stärker betroffen als die Deutschschweiz. In der Westschweiz gab es pro Kopf viermal mehr Todesfälle ...
Und das hat natürlich zusätzlich Einfluss darauf, dass die Gefahr in der Romandie als grösser wahrgenommen wird.
Die ersten Lockerungen der Notstandsmassnahmen wurden bei Ihnen stark kritisiert. In Ihrer Sendung gab die Neuenburger Bildungsdirektorin Monika Maire-Hefti zu verstehen, die Deutschschweiz sei bereit, Menschen zu opfern, damit die Wirtschaft laufe.
Sie sagte: «Ich wage zu behaupten, dass Westschweizer sensibler sind, was das Zwischenmenschliche anbelangt, und Deutschschweizer, was die Wirtschaft betrifft.» Diesen Vorwurf habe ich nicht nur von ihr gehört, sondern während der Krise sehr oft.
Ein schwerer Vorwurf.
Es gab zwei unterschiedliche Sichtweisen der Krise und die Auffassung der Nachbarländer spielte eine zentrale Rolle. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel schlug einen nüchternen, pragmatischen Ton an. Ich denke, das hat in den Ohren aller Deutschsprachigen Resonanz gefunden.
Während die Romandie nach Frankreich blickte.
Genau. Emmanuel Macron sprach von Krieg und gab sich theatralisch. Er sagte, die Welt werde nie wieder sein wie zuvor, und verhängte eine strenge Ausgangssperre. Wenn man das aus dem grossen Nachbarland hört, macht das Eindruck! Daher die vielen Rufe nach einem «confinement total» im Welschland. Ich denke, die Deutschschweizer haben in der Krise einen kühleren Kopf bewahrt als die Romands. Ich kenne Familien ohne besonders gefährdete Personen, die nur noch ein- bis zweimal pro Woche aus dem Haus gingen, als es in Zürich, St.Gallen und Bern bereits Anti-Lockdown-Demonstrationen gab.
Gab es keine welschen Vertreter aus der Wirtschaft, die auf eine frühere Öffnung drängten?
Off the record sagten mir mehrere Politiker exakt dasselbe wie gewisse Stimmen aus der Deutschschweiz. Doch öffentlich darüber zu sprechen war tabu. Ich fragte sie: «Warum sagen Sie das nicht vor laufender Kamera?» Ihre Antwort: «Man würde mich als herzlos bezeichnen!»
Die Corona-Krise war ein Prüfstein für den Schweizer Zusammenhalt. Ihr Fazit?
Die Krise liess den Graben klaffen. Einen politischen Bruch gab es aber nicht! Das Schweizer Erfolgsrezept absorbierte den Schock. Wir haben unterschiedliche Empfindlichkeiten, leben aber sehr gut Seite an Seite. Wie ein altes Ehepaar: Jeder schaut einen anderen Film auf seinem Tablet, aber das hindert sie nicht daran, miteinander glücklich zu sein.