Ein Corona-Graben spaltet das Land
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Romands sehen Corona anders:Ein Corona-Graben spaltet das Land

Romandie hat pro Kopf vier Mal mehr Todesfälle als Deutschschweiz
Ein Corona-Graben spaltet das Land

Ein Corona-Graben spaltet das Land. Deutsch- und Westschweizer sind sich in der Krise selten einig. Ist es eine Frage der Kultur – oder doch eher der Todeszahlen?
Publiziert: 18.04.2020 um 23:38 Uhr
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Aktualisiert: 19.04.2020 um 12:38 Uhr
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Im Westschweizer Pendant zur «Tagesschau» werden Alain Berset andere Fragen gestellt.
Foto: Screenshot RTS
Camille Kündig und Thomas Schlittler

Donnerstagabend, 19.30 Uhr, «Tagesschau». Vor wenigen Stunden hat der Bundesrat die Corona-Exit-Strategie präsentiert. Moderator Florian Inhauser will von der Polit-Korrespondentin in Bern als Erstes wissen: «Österreich, Dänemark und Deutschland sind zügiger unterwegs – warum sind die Schweizer Behörden zurückhaltender?»

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Zur gleichen Zeit gibt Alain Berset ein Interview in «Le 19h30», dem Westschweizer Pendant zur «Tagesschau». Eröffnungsfrage der Moderatorin: «Die Epidemie ist noch nicht ausgemerzt, und es gibt weder eine Impfung noch ein Me­dikament – ist es nicht zu früh für eine Lockerung?»

In der Romandie sterben pro Kopf vier Mal mehr Menschen an Corona als in der Deutschschweiz.
Foto: BLICK Grafik

Nicht nur dieses Beispiel zeigt, wie unterschiedlich Deutsch- und Westschweiz in der Corona-Krise ­ticken. Die Geister scheiden sich auch an Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG). In der Deutschschweiz wird «Mr. Corona» fast schon verehrt. In der lateinischen Schweiz gibt es auch nega­tive Stimmen. Der Hauptvorwurf: Er habe nicht früh genug reagiert, um die Welle aufzuhalten.

 

Ein Corona-Graben teilt das Land – und das seit Wochen.

Als man in der Deutschschweiz bereits von einem baldigen Hochfahren der Wirtschaft sprach, wurde in der Romandie immer noch über ein «confinement total» diskutiert, eine strenge Ausgangssperre nach dem Vorbild Frankreichs.

Zögerliche Deutschschweiz und strikte Romandie

«Le Temps» resümierte: «Auf der einen Seite sind die französischsprachigen Kantone und das Tessin, die entschlossen sind, alles zu tun, um die Ausbreitung von Covid-19 zu verlangsamen, auf der anderen die zögerlichen Deutschschweizer Kantone.»

In der Deutschschweiz wiederum stiess der Ruf der Welschen nach einer strengen Ausgangssperre auf Unverständnis. Der «Tages-Anzeiger» mutmasste: «Gerade in Genf, aber auch in der Waadt und im Wallis ist man bereit, sich den Befehlen des Elysée-Palasts in ­Paris zu unterwerfen (...). Von Ärzten, Politikern und Journalisten angetrieben, schiebt man seine Freiheitsrechte plötzlich zugunsten des Wunsches nach einem Zentralstaat und dem personifizierten Ausüben von Regierungsmacht beiseite.»

Dabei gibt es für den unterschiedlichen Umgang mit der Krise eine viel näher liegendere Erklärung als kulturelle Eigenheiten: die unterschiedliche Betroffenheit.

Das Tessin ist am stärksten betroffen

In den mehrheitlich französischsprachigen Kantonen Freiburg, Genf, Jura, Neuenburg, Waadt und Wallis leben rund 2,2 Millionen Menschen, 26 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Diese Kantone verzeichnen gemäss BAG aber 547 der insgesamt 1109 Corona-Todesfälle hierzulande – 49 Prozent. Die Deutschschweizer Kantone mit rund sechs Millionen Einwohnern dagegen verzeichneten bis Samstagnachmittag lediglich 373 Covid-19-Opfer (34 Prozent). In der Relation am stärksten betroffen ist bekanntlich das Tessin, das mit 350 '000 Einwohnern 189 Corona-Tote zu beklagen hat (17 Prozent).

Pro Kopf sieht die Statistik wie folgt aus: In der Romandie starben bisher pro 100'000 Einwohner 24,7 Menschen an Covid-19. Im Tessin beträgt die traurige Quote 53,5. In der Deutschschweiz derweil nur 6,2 – und liegt damit auf ähn­lichem Niveau wie in Deutschland und Österreich.

Sind Sprachgrenzen in der Corona-Krise demnach wichtiger als Landesgrenzen? Olivia Keiser, Epidemiologin der Universität Genf, relativiert: «Die Sprache oder die Sprachgrenze ist nicht entscheidend, sondern wie sich die Leute bewegen und Kontakt zueinander haben.» Als Beleg zitiert sie die ­Situation in Basel: «Dort ist die Inzidenz auch doppelt so hoch wie jene in den Kantonen Zürich und Bern. Vielleicht teilweise wegen der Situation in Mulhouse – und trotz der Sprachgrenze dazwischen.»

Deutschschweiz mit einem zeitlichen Vorsprung

Laut Olivia Keiser spielte der Faktor Zeit die entscheidende Rolle: «Im Tessin und in der Romandie hat die Epidemie früher begonnen. Die Deutschschweiz hatte somit einen zeitlichen Vorsprung.» Die getroffenen Massnahmen hätten grössere Schäden verhindert.

Doch weshalb breitete sich die Epidemie in der lateinischen Schweiz früher aus? Das Tessin ist stark durch seine Nähe zur Lombardei betroffen. Zudem ist die Bevölkerung dort älter als im Rest der Schweiz – und somit gefährdeter.

Andererseits: Warum ist die Todesrate im Waadtland und in Genf höher, obwohl da nicht überdurchschnittlich viele Senioren leben? Jacques-André Romand, Genfer Kantonsarzt: «Darauf hätten wir auch gerne eine Antwort – wir wissen es nicht mit Sicherheit.» Sein Versuch einer Erklärung: «Viele Genfer haben italienische Wurzeln und pflegen intensiven Kontakt mit Norditalien.» Daher sei es wahrscheinlich, dass das Virus über die Grenze eingeschleppt wurde. Auch die Internationalität der Calvinstadt mit ihren vielen überstaatlichen Treffen falle wohl ins Gewicht, ebenso der rege Grenz­verkehr nach Frankreich.

Corona-Vergleiche zwischen Ländern und Regionen sind immer mit Vorsicht zu geniessen, weil die Daten nicht überall genau gleich er­hoben werden – nicht einmal innerhalb der Schweiz. Und auch nicht bei Covid-19-Tests nach dem Tod. So führen die Kantone Genf und Bern bei Verdachtsfällen post mortem einen Abstrich durch – im Gegensatz zu Zürich und Tessin.

Corona-Massnahmen pro Region

Die Anzahl der Fälle in der Romandie lässt sich laut BAG jedoch bei weitem nicht nur durch Unterschiede beim Testen erklären. Unbestritten ist, dass die Corona-Betroffenheit zwischen den (Sprach-) Regionen stark variiert. Wäre es da nicht angebracht, auch die Corona-Massnahmen stärker auf einzelne Regionen abzustimmen?

«Ja, das wäre sinnvoll», sagt An­dreas Cerny, Infektiologe in Lugano TI. Er ist froh, dass sich das Tessin eine gewisse Autonomie erkämpfen konnte. Und hofft, dass der Süd­kanton weiter dem Beispiel der Lombardei folgt, wo der Lockdown weitergeht – und nicht dem Exit-Plan Berns. Olivia Keiser von der Universität Genf sieht regionale Lösungen kritischer: «Es wäre schwierig kommunizierbar und logistisch schwer umsetzbar, wenn jeder Kanton seinen eigenen Weg gehen würde.» Zudem bestehe die Gefahr, dass durch unterschiedliche Massnahmen die Mobilität zwischen den Regionen erhöht werde.

Das Motto von Alain Berset betreffend Corona-Exit lautet: «So schnell wie möglich, so langsam wie nötig.» Gemeint ist das Gleichgewicht zwischen Wirtschaft und Gesundheit. Der Gesundheitsminister aus dem zweisprachigen Freiburg dürfte wissen: Es geht dabei auch um das Gleichgewicht zwischen Deutschschweiz und Romandie.

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