Reportage aus dem Taliban-Staat
Sie fürchten um ihre Freiheit und ihr Leben

Während die Schweiz erstmals seit Jahren wieder verurteilte Afghanen ausschafft, bleibt die Situation im von den Taliban kontrollierten Land prekär. Besonders gegenüber Frauen nehmen die Repressalien zu. Doch auch ehemalige Soldaten fürchten um ihr Leben.
Publiziert: 13.10.2024 um 19:13 Uhr
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Die Taliban haben in den letzten Jahren die Rechte der Frauen immer stärker beschnitten.
Foto: AFP

Auf einen Blick

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Emran Feroz und Ahmad Zubair*

Ausgerüstet mit Laptop und Headset sitzt Farida* (18) auf einer traditionellen afghanischen Matratze. Während sie gebannt auf den Monitor blickt, spricht sie mal ihre Muttersprache Farsi, mal Englisch. Sätze und Vokabeln werden wiederholt. Dann ist plötzlich alles eingefroren. «Diese Internetverbindung ist so nervig», sagt sie, zückt ihr Smartphone und schreibt in die Whatsapp-Gruppe ihres Englischkurses, dass der heutige Unterricht vorbei sei.

Farida unterrichtet mittlerweile fast ein Dutzend junger Afghanen und Afghaninnen, die meisten von ihnen wollen internationale Englischtests bestehen und sich für Stipendien im Ausland bewerben. Farida wurde gezwungenermassen zur Lehrerin. Seit über drei Jahren spielt sich ihr Leben hauptsächlich zu Hause ab.

«Ich habe hier keine Zukunft mehr»

Im August 2021 übernahmen die militant-islamistischen Taliban abermals die Macht in Afghanistan. Kurz darauf wurden die meisten Oberstufenschulen für Mädchen geschlossen, auch Faridas Schule in der nördlichen Provinz Balch war betroffen. Bald wurde klar, dass es unter den Extremisten keinen Unterricht mehr geben würde.

Ende 2022 verkündete das Taliban-Regime ein Universitätsverbot für alle Afghaninnen. «Mir wurde bewusst, dass ich in meiner Heimat in Sachen Bildung keine Zukunft mehr habe», sagt Farida. Sie hatte Angst, depressiv zu werden – wie viele ihrer Freundinnen.

Die Taliban begründeten ihre Verbote mit fehlenden Schuluniformen, logistischen Problemen und «unislamischem» Zuständen. Alles Ausreden, meint Farida: «Sie wollen nicht, dass wir Frauen gebildeter sind als sie.» Viele Afghaninnen teilen ihre Meinung. Doch sie wissen auch, dass sie nicht alle das Land verlassen können. Deshalb suchen sie Alternativen, um weiterhin leben und lernen zu können. Mittlerweile versuchen viele Mädchen und Frauen, von zu Hause aus zu arbeiten oder zu studieren. 

Faridas Familie hat sie zum Onlineunterricht motiviert. Den Grossteil ihrer Englischkenntnisse brachte sie sich selbst bei – über Netflixserien und untertitelte japanische Animes. Ihr Traum: ein Studium im Ausland.

Seit der Machtergreifung der Taliban findet ein massiver Braindrain statt. Weite Teil der gebildeten Schicht haben das Land verlassen, viele leben in den Nachbarstaaten Iran und Pakistan oder sind längst in Europa, Kanada oder den USA angekommen.

Singen ist Widerstand

Kurz nach dem dritten Jahrestag der Taliban-Rückkehr verkündete das Regime sogenannte Tugendgesetze. Sie richten sich gegen afghanische Frauen und befeuern das, was zahlreiche Kritiker und Beobachterinnen mittlerweile als «Gender-Apartheid» bezeichnen. Afghaninnen dürfen neu in der Öffentlichkeit weder laut sprechen noch singen.

Viele von ihnen reagierten prompt und teilten Gesangsvideos. Während Frauen aus der Diaspora ihr Gesicht zeigten, beteiligten sich jene, die weiterhin im Land leben, anonym an der Aktion. Ein Video zeigt etwa eine mutmasslich junge Frau, die singend durch die Strassen Kabuls läuft, während höchstwahrscheinlich in ihrer unmittelbaren Umgebung Taliban-Soldaten patrouillieren.

Erst vor wenigen Tagen teilten mehrere Afghaninnen auf X «Strafzettel», die sie von den Taliban erhalten hatten. Sie waren ohne männliche Begleitung unterwegs.

Wie gefährlich diese Form des Aktivismus und die Kritik am Regime sein kann, haben die letzten Monate immer wieder verdeutlicht. Frauenaktivistinnen wurden von den Taliban verhaftet, verhört und mehreren Berichten zufolge sexuell missbraucht. Laut Azadi-e Zan, einem afghanischen Frauennetzwerk, wurden Afghaninnen in Taliban-Gefangenschaft Opfer von sexueller Gewalt und Folter.

Bekannt ist auch, dass die Gefängnisse der Taliban mittlerweile voll sind mit Kritikern, Demonstrantinnen, Journalisten und Aktivistinnen. «Ich kenne Menschen, die aufgrund von Facebook-Kommentaren verhaftet worden sind», erzählt Samir*, ein ehemaliger Soldat der alten, afghanischen Armee. Er versteckt sich weiterhin im Land, obwohl er von den Taliban gesucht wird. In den letzten drei Jahren wurden zahlreiche Ex-Soldaten vom Regime gejagt und getötet – obwohl ihnen Amnestie versprochen wurde.

Viele Umstände vor Ort lassen sich allerdings nicht begutachten, da unabhängigen Beobachtern Zutritt verweigert wird.

«Sicherheitskräfte sind allgegenwärtig»

Eine wichtige Rolle bei der Überwachung spielt neben der Sittenpolizei, die etwa die Tugendgesetze und andere Repressalien durchsetzt, der Geheimdienst des Taliban-Regimes. Er verfügt mittlerweile über detaillierte Datenbanken mit Zielpersonen aus Medien und Zivilgesellschaft.

«Die Sicherheitskräfte der Taliban sind potenziell allgegenwärtig. Widerstandsäusserungen sind auf die sozialen Medien und private Räume beschränkt, wo man sich noch treffen kann. Aber auch so etwas kann unterbunden werden, etwa wenn die Taliban die Beobachtung in Nachbarschaften verstärken», sagt Thomas Ruttig, Co-Direktor des Thinktanks Afghanistan Analysts Network. Vor allem in Kabul falle es den Machthabern schwer, alle Frauen wegzusperren.

Einen breiteren Widerstand erwartet Ruttig nicht, da dieser auf Dauer zu gefährlich sei. Ähnlich wie andere Beobachter befürchtet auch er eine zunehmende Medienblockade.

Internationale Kritik nimmt zu

Mittlerweile hat die internationale Kritik an den Repressalien der Taliban zugenommen. Vor kurzem wurde bekannt, dass Deutschland, Kanada, die Niederlande und Australien planen, die Taliban aufgrund der Missachtung der Uno-Frauenrechtskonvention vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen.

Der Europäische Gerichtshof entschied vor wenigen Tagen, dass afghanischen Frauen per se Asyl gewährt werden müsse. Bereits im Sommer 2023 beschloss das Staatssekretariat für Migration, dass Afghaninnen fortan in der Schweiz Asyl erhalten und als Geflüchtete anzuerkennen sind.

Für Farida klingt die jüngste Entscheidung des Gerichtshofs zumindest in der Theorie schön und gut. Die Hürde für viele sei es allerdings, überhaupt erst nach Europa zu gelangen. «Ich kann mir keine Flucht über den Iran und die Türkei vorstellen. Auf diesen Routen passieren viele schlimme Dinge, und ich habe Verwandte, die nichts als den Tod gefunden haben.»

* Namen geändert 

Emran Feroz und Ahmad Zubair sind freie Journalisten. Sie berichten regelmässig aus Afghanistan. 

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