Quartiere werden im Sommer zu Hitzefallen
Warum wir Wald in die Stadt holen müssen

Auch im nächsten Sommer werden unsere Städte wieder zu Hitzefallen. Aber die Schweiz verschnarcht neuste Bautrends bei der klimafreundlichen Architektur.
Publiziert: 07.09.2019 um 14:27 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2019 um 09:21 Uhr
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Produziert Sauerstoff und kühlt: Fassadengestaltung vom französischen Botaniker, Künstler und Architekten Patrick Blanc in São Paulo, Brazil
Foto: Getty Images
Silvia Tschui

Der Sommer ist fast vorbei und mit ihm die grossen Hitzewellen. Sie aber sind erst der Anfang! 2019 war der dritt­heisseste Sommer seit Mess­beginn und der dritte Hitzesommer in ­Folge. Doch in Zukunft wird es ­gemäss ­aktuellen Klimaprognosen der ETH noch heisser – und die Hitze­wellen werden länger dauern.

Geht man in grösseren Schweizer Städten im Hochsommer durch einzelne Quartiere – Europaallee in Zürich, Bollwerk in Bern, Marktplatz in Basel – ist die Hitze heute schon schier unerträglich. Seit dem Hitze- und Dürresommer 2018 werden in einzelnen Städten Hitzekarten erstellt. Sie zeigen: In solchen Quartieren ist es bis zu drei Grad heisser als in der baum­reicheren Agglomeration, da Asphalt und Beton die Aussenluft zusätzlich erhitzen.

Bei Temperaturwerten von über 38 Grad, wie etwa diesen Sommer in Basel gemessen, kann es da lebensgefährlich werden. Es erweckt den Eindruck, hier sei grundlegend falsch geplant worden ist: Wie kann man in Zeiten von Hitzewellen auf Glas-/Betonkonstruktionen setzen, die unmittelbar an asphaltierte Strassen anschliessen? Wie kann man Flächen – wie bei der Europa­allee – mit schwarzem Asphalt versiegeln?

Die Hängenden Gärten von Babylon als Vorbild

Stellen Sie sich stattdessen einen Sommer-Stadtspaziergang vor, bei dem Sie entlang saftiger ­Vegetation spazieren – in lauschigem Schatten. Wasserflächen werfen Sonnen­flecken an Hauswände, und es plätschert entspannend. Bienen summen, und es riecht wie im Wald. Eine andere Bauweise wäre also dringend nötig.

Zumindest im Reich der Überlieferungen ist eine solche seit Jahrhunderten bekannt: Die Hängenden Gärten von Babylon, ­eines der sieben Weltwunder, sollen in der Antike eine mehr­terrassige, ausgeklügelt gebaute Gartenan­lage gewesen sein, welche die Fantasie von Forschern und Wissenschaftlern bis heute beflügelt.

Begrünte Fassaden und Dächer bringen viele Vorteile

So etwa den Künstler und Bio­logen Patric Blanc, der bereits seit den frühen 80er-Jahren mit begrünten Fassaden experimentiert. Mittlerweile sind seine Bauten rund um die Welt zu sehen, vom Hochhaus in Malaysia bis hin zum Einfamilienhaus in Belgien. Sie ­gelten als Vorreiter für eine ökologischere Stadtplanung.

Begrünte Fassaden – und auch Dächer – nehmen gleich mehrere Funktionen wahr: Gegen innen wirken sie temperturausgleichend, im Winter also isolierend. Und im Sommer kühlen sie gegen innen und aussen. Zusätzlich filtern sie Feinstaub, nehmen CO2 auf, stossen Sauerstoff aus, tragen zur Erhaltung der ­Artenvielfalt bei und verschönern die Umgebung – sie wirken also ­auch günstig auf die ­Gesundheit und Psyche von Stadtbewohnern.

Das Ausland ist viel innovativer als die Schweiz

Einige Stadtplaner und Investoren reagieren bereits: Der im Januar 2018 eröffnete Singapurer Hochhauskomplex «Marina One» etwa ist um ein grünes Herz samt Wasserfläche angelegt. Eine Mitte, die sich der Artenvielfalt verpflichtet hat. Zudem sind die untersten vier Stockwerke zusätzlich begrünt.

Eine clevere, teilweise gekurvte Fassadengestaltung sorgt dafür, dass ­Regenwasser aufgefangen und gleichzeitig Winde so verteilt werden, dass sie maximale Kühlungseffekte erzielen – ein ganzheitlicher Ansatz, der aerodynamische Studien genauso berücksichtigt wie biologische Erkenntnisse, um so ein eigenes Mikroklima zu schaffen.

Man braucht aber nicht so weit zu schweifen, um auf innovative Lösungen zu stossen: Der für ­«Marina One» verantwortliche Architekt, der Deutsche Christoph Ingenhoven, baut bis 2020 in Stuttgart ein ganzes, vertikal begrüntes Innenstadtquartier, die sogenannte «Calver Passage». Expli­zites Ziel des Projekts war, «etwas für die Stadt zu tun» und «einen Beitrag zu leisten in Richtung ­Artenvielfalt, Lärmreduzierung, Feinstaubbindung, Regenwasserrückhaltung und Kühlwirkung für das Stadtklima», wie sich der Architekt 2017 in den «Stuttgarter Nachrichten» zitieren liess.

Grüne Stadtlungen sind wichtiger denn je

In ­Düsseldorf wiederum entsteht mit 41 430 Quadratmetern die grösste Grünfas­sade Europas – als Dach und Seitenwand des Gebäudekomplexes ­Kö-Bogen II. Auch die Italiener und Holländer haben uns einiges voraus: In Mailand wurden schon 2014 die beiden Hochhaustürme «Bosco Verticale» (vertikaler Wald) eröffnet. Und in Amsterdam entsteht unter dem ­Namen «Valley» («Tal») gerade ein Gebäudekomplex mit begrünter Fassade und 196 Wohnungen – jede mit einem kleinen Vertikalwald davor.

Man stelle sich zudem vor, alle Städte würden aktiv Sauerstoff produzieren. In Zeiten, in welchen Wälder in der Arktis und im Amazonas-Gebiet brennen und somit ein grosser Teil der Bäume verschwinden, die unseren lebensnotwen­digen Sauerstoff herstellen, wären grüne Stadtlungen wichtig.

Paris pflanzt im grossen Stil Gemüse auf Dächern

Das Potenzial dieser grünen Fassaden ist sogar noch viel grösser. Man stelle sich vor, man würde einen Teil der Nahrungsmittelproduktion in solchen vertikalen Gärten ansiedeln: Lokales, frisches Gemüse und Obst wären für Stadtanwohner direkt verfügbar, und Transportwege würden verkürzt. Was wie Utopie klingt, ist in Singapur bereits Realität.

Da Land im Inselstaat äusserst knapp ist, ist hier bereits 2012 die erste Hochhausfarm entstanden, in der in Hydrokultur frisches Bio-Gemüse für die Stadt entsteht – eine Rarität in einem Staat, der nur sieben Prozent seiner Nahrungsmittel selbst produziert. Und in Paris entsteht aktuell die grösste Gemüse-Dachfarm der Welt: Ab 2020 soll auf 14 000 Quadratmetern Dachfläche Gemüse produziert werden.

Behördenalbtraum Schweiz verhindert grünes Bauen

Bei all den Vorteilen fragt man sich: Warum leben wir hier in der reichen Schweiz eigentlich nicht schon längst in grünen städtischen Oasen? Warum quälen wir uns im Sommer durch unerträglich heisse und im Winter ungemütlich windige Asphaltwüsten? Wer plant so etwas?

Die Antwort ist kompliziert: Die Politik hinkt, was das Bauen betrifft, dem Klimawandel hinterher. Immerhin haben Bund und Kantone bereits Empfehlungen ausge­arbeitet, so etwa in der Broschüre «Hitze in Städten» vom Bundesamt für Umwelt (Bafu) aus dem Jahr 2018. Darin empfiehlt der Bund den Gemeinden ziemlich zahnlos, «Wissen aufzubauen».

Er legt aber ­den ­Fokus immerhin auf Stadt­planung, also darauf, dass Luftzufuhrschneisen beachtet werden. Und er empfiehlt Grünflächen, ­Wasserelemente und wenige mit Asphalt versiegelte Flächen. Die Broschüre ist jedoch ein gesetzlich nicht verbindlicher Leitfaden, dessen Beachtung etwa der besagten Europaallee mit ihrem schwarzen Asphalt gutgetan hätte.

Stadt und Bund schieben Verantwortung von sich

Aktuell ist eine Revision des Raumplanungsgesetzes hängig – und die Fragen, welche konkreten Massnahmen denn eigentlich zur Hitzereduzierung getroffen werden, lösen eine kafkaeske Rechercheflut aus. Dabei verweisen Gemeinden und Städte auf den Bund, das Bafu auf das Amt für Raum­planung, welches wiederum auf die Zonen- und Massnahmenpläne der Städte verweist.

In konkreten Massnahmeplänen, etwa im Kanton Zürich vom ­September 2018, wird dann klar, wie fahrlässig einzelne Kantone die ­Planung verschlafen haben: Schritt 1 zur Förderung der «lokalklimaangepassten Stadtentwicklung» lautet dort in schönstem Beamtendeutsch: «Identifizierung bestehender Regelungen in den Planungsinstrumenten und in den Rechtsgrundlagen, welche eine ­lokalklimaangepasste Siedlungs- und Freiraumentwicklung behindern bzw. hemmen».

Bis Massnahmen umgesetzt werden, dauert es noch

Das bedeutet auf Nicht-Beamtendeutsch, dass der Kanton jetzt ­aktuell erst herauszufinden versucht, wo die aktuelle Gesetzes­lage ein kühlendes Bauen eher hemmt, als es zu fördern. Der Umsetzungszeitraum ist bis 2021 – bei einem Personalaufwand von kläglichen zehn Prozent. Erst dann ­können aus diesen Erkenntnissen im Idealfall Gesetze abgeleitet werden, die etwa Fassaden­begrünungen oder Wasserflächen zwingend vorschreiben.

Da dieser Prozess aber, insbesondere durch die nötige Koordination zwischen Bundes- und Kantonsebene, bis zu zehn Jahre oder mehr dauern kann, werden Investoren noch jahrelang bauen können, ohne lokal kühlende Massnahmen umsetzen zu müssen.

Geldgeber und Architekten müssen umdenken

Dabei gäbe es einfache Massnahmen, die rasch Resultate zeitigen könnten: Neben Begrünungen und Wasserflächen wären dies etwa konsequent vorgeschriebene helle Fassadenfarben, helle Bodenbeläge und eine geringe Versiegelung der Böden. Immerhin ver­anstalten einzelne Städte Vortragsreihen zu den Themen.

Es wären also die grossen Investoren und Architekten in der Pflicht. Einer der wenigen Pioniere, die Herdium Immobilien AG, plant in Zürich eine begrünte Fassade an der Löwenstrasse – und stösst auf Widerstand: In der «NZZ» sagt der damals zuständige Architekt 2018, er habe in einem «nervenaufreibenden Prozess» mit rund zehn verschiedenen Stellen und Ämtern sprechen müssen, um auch nur schon das Gesuch für eine begrünte Fassade einreichen zu können. Mittlerweile hat er das Projekt abgegeben, die grüne Fassade ist noch immer in Planungsphase.

Investoren wollen gescheite Lösungen für Neubauten

Auf Nachfrage bei den grössten Immobilien- und Landbesitzern der Schweiz – etwa Swisslife, SBB oder der Post – zeigt sich: Eine eigene Innovationsabteilung im Bereich zukunftsträchtiges Bauen führt keine. Immerhin halten sich einige bei den meisten Neubauten an den ­sogenannten DGNB-Standard, ein von deutschen Universitäten entwickelter Standard, der auf Ökologie, Ökonomie und Nachhaltigkeit im Bauen achtet – mit Fokus auf sogenannte «smarte» Lösungen.

Etwa, dass Sensoren wie bei ­einem neuen Swisslife-Grossprojekt in Zürich merken, ob sich jemand in der Wohnung befindet oder nicht und die Temperatur dementsprechend regeln. Während dies alles unbestreitbar Efforts sind, um global gesehen so wenig CO2 wie möglich auszustossen, ist ­eigentlich klar: Das reicht nicht, um in unseren Städten in Zukunft bei Hitzewellen Tote zu vermeiden.

Doch nicht so smart: «grösster Sondermüll der Baugeschichte»

Ein renommierter Fachmann rechnet zudem mit den «Smart ­Houses» ab: Der Österreicher Dietmar Steiner ist in einer ellenlangen Liste internationaler Architektur- und Förderpreis-Komitees vertreten. Er sagt in einem kürzlich erschienenen Interview in der «Wiener Zeitung», Smart Homes seien das Gegenteil von schlau: «Wir sagen doch immer, dass jeder Bau nachhaltig sein muss. Dies wird heute mit einem enormen Aufwand von Haustechnik erfüllt – und das bezeichnet man dann auch noch als smart. Dabei bauen wir damit den grössten Sondermüll der Baugeschichte.»

Die benutzten Materialien, etwa Dämmplatten, seien giftig und kaum wiederverwertbar. Nachhaltig seien hingegen Bauten, die seit Jahrhunderten stehen. «Wir brauchen keine Smart Houses, wir brauchen Stupid Houses.» Er plädiert auf eine Rückkehr zu konventionellen Bauweisen, mit Ziegelsteinen statt Beton-Stahlkonstruktionen. Das Problem: Eine solche Bauweise kommt teurer – aber nur kurzfristig, wie er sagt. Solche Überlegungen sind in den von den Investoren oftmals favorisierten DNGB-Standards jedenfalls keine zu finden.

Einige wenige Projekte grünen in der Schweiz

Immerhin plant die Swisslife in Zürich ein fassadenbegrüntes Wohnprojekt. In Bern hat die Post mit Bepflanzungen am PostParc eine Wandfläche begrünt. Vereinzelt entstehen fassadenbegrünte Siedlungen, etwa das Gartenwohnhochhaus in Zug oder ein Novartis-Laborgebäude in Basel. In Chavannes-près-Renens im Kanton Waadt entsteht bis spätestens Anfang 2021 ein Hochhaus mit bewaldeter Fassade – Eichen, Zedern, Ahornbäume und einheimische Büsche sollen dort bis vier Stockwerke hoch wachsen.

Um einen Wandel im Städtebau einzuleiten, sind diese Projekte aber noch zu wenig zahlreich. Auch dass die SBB angeben, an der Europa­allee immerhin 76 Gingkobäume einzupflanzen, wirkt leider wie ­Augenwischerei.

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