Sie arbeiten zu jeder Tages- und Nachtzeit. Mindestens 20 Stunden im Monat. Sie bilden sich ständig weiter. Bevor sie den ersten Dienst allein tätigen dürfen, haben sie eine einjährige, fundierte Grundausbildung absolviert. Finanziell springt dabei für sie nichts raus. Nur die Spesen werden vergütet, und es steht Verpflegung bereit.
Die rund 670 Mitarbeitenden der Dargebotenen Hand engagieren sich freiwillig. Und nicht bloss ein paar Monate lang – die meisten bleiben acht bis zehn Jahre. Macht pro Freiwilliger rund 2400 Stunden, in denen er vor allem eines tut: dem fremden Menschen, der die Nummer 143 gewählt hat, zuhören und ganz für ihn da sein.
«Wir geben keine Ratschläge»
Wie schafft man das? «Einmal ist eine Frau zu mir gekommen, die sich bei uns engagieren wollte. Sie hat gesagt: ‹Das Leben ist sehr gut zu mir gewesen. Jetzt will ich etwas davon zurückgeben!›», erzählt Catherine Bezençon, Waadtländer Stellenleiterin der Dargebotenen Hand und Mitglied des nationalen Vorstands. «Später habe ich die Frau wieder getroffen, nachdem sie einige Monate als Telefonseelsorgerin gearbeitet hatte. Mit einem strahlenden Lächeln hat sie gesagt: ‹Wissen Sie, ich dachte, ich wollte geben. Und dabei habe ich so viel erhalten.›»
Es ist das Teilen, der unvoreingenommene Austausch mit einem anderen Menschen, das die Mitarbeitenden des Sorgentelefons als bereichernd und sinnstiftend erleben. Viele von ihnen sind pensioniert, und oft hat ihnen die Tätigkeit bei der Dargebotenen Hand einen weiteren Schritt zur persönlichen Reife ermöglicht.
Nur wer sich selber genau kenne, könne sich ganz in sein Gegenüber versetzen. «Wir geben keine Ratschläge. Wir tun nicht so, als wüssten wir, was für Menschen in Not das Richtige ist – wir begegnen ihnen mit Respekt, auf Augenhöhe und hören aufmerksam zu», sagt Sabine Basler, Geschäftsführerin des Schweizer Verbands.
Wert des Zuhörens wird unterschätzt
«Niemand hört mir wirklich zu»: Es sei erstaunlich und zugleich erschreckend, wie oft sie diese Klage zu hören bekämen. Manchmal sogar von Menschen, die in therapeutischer Behandlung sind. Aus vielen Gesprächen mit den Stellenleitenden der zwölf Regionen ist bei Sabine Basler die Gewissheit gereift: «Der therapeutische Wert psychologischer Fachkenntnisse wird überschätzt, der Wert des blossen Zuhörens dagegen unterschätzt.»
Manchmal ist es sehr herausfordernd, für andere da zu sein und zu versuchen, ihre Gemütsstimmung zu spiegeln. Es rufen auch Menschen mit einer psychologischen oder psychiatrischen Diagnose an, Männer, die ihre Frauen schlagen, Frauen, die ihre Männer schlagen, Exhibitionisten.
Auch Mafia-Mitglieder rufen an
«Ich versuche immer, dem Menschen zu begegnen, der hinter den Taten steckt. Das heisst nicht, dass ich diese Taten gutheisse. Ich weiss aber, dass fast alle Täter zuvor selber verletzt wurden», sagt Catherine Bezençon. Und erzählt von einem Mafiamitglied, das ihr sein Herz ausgeschüttet hat. Der Mann habe sein ganzes Leben lang niemanden zum Reden gehabt. «Können Sie sich diese extreme seelische Not vorstellen?», fragt Bezençon.
20 bis 30 Minuten dauert ein durchschnittliches Gespräch. Oft seien die Anrufenden aufgewühlt. Es brauche Zeit, bis sie sich beruhigt hätten und ihr Herz öffnen könnten. In der Nacht, wenn die Dunkelheit die Perspektive verengt, rufen vermehrt Menschen mit Ängsten an. Für viele ist die Dargebotene Hand dann der einzig verfügbare Rettungsanker.
«‹Schon nur der Gedanke, dass ihr da seid, beruhigt mich›, hat mir mal eine Anruferin erzählt», sagt Bezençon. Manchmal rufen nachts auch Leute an, um über ganz Alltägliches zu erzählen: Was für einen Film sie eben im Kino gesehen haben, was sie gegessen haben. Oder auch nur, um zu berichten, dass sie nicht schlafen können. «Wichtig ist, dass wir auch hier authentisch bleiben», sagt Bezençon. In solchen Fällen weist die Dargebotene Hand die Anrufenden darauf hin, dass die Telefonlinien in der Nacht vor allem für Notfälle reserviert seien.
30 Prozent mehr Anrufe während Corona-Lockdown
Immer wieder ein Thema ist die Einsamkeit. «Gerade während des Corona-Shutdowns haben wir hier eine Zunahme von über 30 Prozent festgestellt. Und es riefen überdurchschnittlich oft Menschen über 65 an», erzählt Sabine Basler. Die Corona-Krise führte zu einem deutlichen Anstieg der Anrufe. Allein im März waren es 7,5 Prozent mehr Gespräche als im Vorjahr. Deshalb hat die Dargebotene Hand ihre Kapazitäten um 300 Stunden pro Woche erhöht. Das wird finanziell durch das Bundesamt für Gesundheit und die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt – und von Freiwilligen, die Extraschichten schieben.
Einsamkeit führt nicht selten zu suizidalen Gedanken. Bei den über 65-Jährigen ist die Suizidalität nach Ausrufung der ausserordentlichen Corona-Lage «dramatisch angestiegen», sagt Klaus Rütschi, Vizepräsident des nationalen Verbands. Überdurchschnittlich viele ältere Menschen hätten am Telefon Suizidgedanken geäussert. Im April etwa habe es gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um 25 Prozent gegeben. In den Kantonen Tessin, Genf und Bern sei die Kurve ähnlich steil verlaufen. Rütschi betont: «Ältere Menschen haben sehr unter den Massnahmen gelitten.»
Gegründet zur Suizidprävention
Suizid ist ein stetig wiederkehrendes Thema bei den Anrufenden – und war der Grund, warum die Organisation 1957 gegründet wurde. «In den Jahren 1950 bis 1956 haben allein in der Stadt Zürich 707 Personen ihr Leben gewaltsam beendet», schrieb damals die «Neue Zürcher Zeitung». Fachleute rechneten mit einem weiteren Anstieg. Mit dem Angebot der Seelsorge per Telefon, rund um die Uhr, hoffte die Zürcher Stadtmission die Entwicklung zu bremsen.
«Das anonyme Telefon erleichtert es gerade verzweifelten Menschen, den ersten Kontakt zu suchen. Das Peinliche des Besuchens, Wartens und Angesehenwerdens fällt weg», heisst es im «NZZ»-Artikel. Im Jahr 1960 wurde der schweizerische Verband gegründet und das Angebot auf das ganze Land ausgeweitet. Im Juni 1985 zog man zum 25-Jahr-Jubiläum Bilanz: Gut 1,7 Millionen Einsamen und Verzweifelten hatten die Seelsorgerinnen und Seelsorger Verständnis und Geduld entgegengebracht.
«Ist es nicht eher fragwürdig, dass wir heute jubilieren?», fragten sich gemäss «Tages-Anzeiger» damals die Mitarbeitenden an der Feier. «Müssten wir nicht eher einen Trauerzug mit schwarzen Flaggen veranstalten – zum Zeichen der Betroffenheit, dass eine Organisation wie wir in unserer Gesellschaft seit 25 Jahren benötigt wird?» Diese Frage hat auch heute, gut 60 Jahre nach der Gründung, nichts von ihrer Dringlichkeit verloren.
Blick TV überträgt heute um 20 Uhr die Verleihung des Prix Courage und «Lifetime Award» live.