Polizeipsychologe zum Drama in Rehetobel
«Bei so grosser Verzweiflung hilft alles Verhandeln nichts mehr»

Als Polizeipsychologe und ehemaliger Beamter weiss Christian Weidkuhn, wie Verhandlungen mit gefährlichen Tätern wie Roger S. (†33) ablaufen. Im Interview mit BLICK gibt er Einblick in die Strategie der Verhandler.
Publiziert: 05.01.2017 um 08:36 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 01:51 Uhr
Hier wohnte der Schütze von Rehetobel AR. Nach einem stundenlangen Nervenkrieg setzte er seinem Leben vor dem Haus ein Ende.
Foto: Toini Lindroos
Lea Hartmann

Mehrere Stunden verhandelten die Polizisten gestern mit dem in die Enge getriebenen Roger S. Der 33-jährige Appenzeller hatte sich in seiner Wohnung verschanzt und drohte damit, Sprengmittel zu zünden. Als die Polizisten gegen 17 Uhr schliesslich einen Diensthund ins Haus schickten, erschoss sich der Täter selbst.

Bei den Ermittlern, die mit S. in Kontakt standen, handelte es sich um Experten der Kantonspolizei St. Gallen. Die sogenannte Verhandlungsgruppe bestand aus mehreren Beamten, bestätigt die Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden. Über die genaue Taktik des Einsatzes gibt sie keine Auskunft.

Es gibt nur wenige Polizeikorps in der Schweiz, die über speziell geschulte Verhandlungsgruppen verfügen. Sie bestehen in der Regel aus einem Verhandlungsführer, einem bis mehreren Coaches, die diesen unterstützen, sowie einem Entscheider und einem Protokollführer. In Krisensituationen werden zudem meist Polizeipsychologen beigezogen.

Als solcher tätig ist Christian Weidkuhn. Der 51-Jährige arbeitete 20 Jahre bei der Kantonspolizei Graubünden, bevor er sich selbständig machte und nun als freischaffender Polizeipsychologe und -ausbildner im In- und Ausland tätig ist. Im Gespräch mit BLICK erklärt der Experte, welche Strategie die Verhandler in einer Notlage wie gestern in Rehetobel verfolgen.

Herr Weidkuhn, mehrere Stunden verhandelten die Polizisten gestern mit Roger S.* Wie muss man sich den Verlauf einer solchen Verhandlung vorstellen?

Ganz wichtig ist in einer ersten Phase, das Vertrauen des Täters zu gewinnen. In der Regel hilft beispielsweise, wenn der Verhandlungsführer Themen anspricht, welche beide Personen gemeinsam haben – zum Beispiel Hobbys. Denn je besser ich die Bezugsperson kenne, desto grösser ist die Hemmschwelle, dass ich mir oder anderen Personen etwas antue.

Und wie geht es weiter, wenn das Vertrauen gewonnen scheint? 
Dann geht es darum, herauszufinden, in welchem emotionalen Zustand sich die Person befindet. Gewöhnlich ist sie hochemotional geladen. Der Verhandlungsführer versucht, die Person erst einmal runterzuholen, damit sie wieder objektiv und rational denken kann. Eine bewährte Taktik dafür ist, den Kontakt zu Vertrauenspersonen herzustellen, wie das durch das Telefonat mit dem Vater in Rehetobel auch geschah. Es kann sich dabei aber auch um die Freundin, einen guten Kollegen oder einen Vertrauensarzt handeln. Oder man holt ein geliebtes Haustier des Täters. Dafür ist es nötig, dass man laufend möglichst viele Informationen über die Person einholt, auch über ihre Vergangenheit und ihre gesundheitliche Situation.

Wie bringt man den Täter schliesslich dazu, sich zu stellen?
Je nach Situation kann der Person in einem nächsten Schritt aufgezeigt werden, was geschieht, wenn sie sich stellt. Dabei geht es nicht darum zu drohen, aber es soll eine Perspektive für den Täter aufgezeigt werden. Hierfür wird im Hintergrund meistens auch die Staatsanwaltschaft beigezogen.

Was geschieht, wenn das nichts nützt? Wann erfolgt ein Zugriff?
Da gibt es keine allgemeingültige Regel. Grundsätzlich ist es weniger heikel, einen Zugriff zu wagen, wenn der Täter alleine ist und es keine Bombendrohung oder Ähnliches gibt. Dass man im Fall Rehetobel erst einen Diensthund vorschickte, kann nebst der Sprengstoffgefahr den Grund haben, dass man so einen sozialen Kontakt aufbauen wollte. Eine mögliche Idee dahinter, neben anderen: Der Täter, der so lange alleine war, sieht plötzlich wieder ein Lebewesen – und kommt so vielleicht wieder zur Vernunft.

Im Fall von Roger S. eskalierte die Situation trotz allen Verhandlungsversuchen, der Zugriff hatte den Suizid des 33-Jährigen zur Folge. Weshalb kam es so weit?
Die konkreten Umstände kenne ich natürlich nicht. Oft ist es Hoffnungslosigkeit oder die Ausweglosigkeit, die dazu führen – wenn eine Person beispielsweise der festen Überzeugung ist, dass ihr Leben verpfuscht ist oder dass sie für mehrere Jahre ins Gefängnis muss. Bei so grosser Verzweiflung hilft manchmal alles Zureden oder Verhandeln nichts mehr.

*Name der Redaktion bekannt

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