SonntagsBLICK: Über Bundeskanzlerin Angela Merkel sagten Sie einst, sie habe «die Herrschaft über das Geschehen». Hat sie sie nach dem letzten Sonntag immer noch?
Herfried Münkler: Angela Merkel hat sich die Herrschaft über das Geschehen gesichert, indem sie sich von grossen Perspektiven und Visionen fernhielt. Diese Politik war sicher passend für die Situation Deutschlands während der letzten zwölf Jahre, als Frau Merkel die guten Ergebnisse der Arbeitsmarktreformen des Kabinetts Schröder erben konnte. Und sie war sicher auch gut für Europa, als es darauf ankam, die auseinanderstrebenden Akteure zusammenzuhalten. Ich glaube aber, dass sich diese Rahmenbedingungen verändert haben. Wir befinden uns im Spätherbst einer politischen Ära.
Im Spätherbst von Frau Merkels politischer Karriere?
Ja. Und im Spätherbst von Merkels Politikauffassung.
Welche Bedingungen haben sich konkret verändert?
Die Zeit der Volksparteien scheint zu Ende zu gehen. Die Zeiten, in denen eine Partei bei Wahlen 40 Prozent plus erreicht hat, sind vorbei.
Die deutsche Politlandschaft wird vielfältiger. Erleben die Deutschen eine Normalisierung ihres Systems oder genau das Gegenteil?
Der Rechtspopulismus, der seit ein bis zwei Jahrzehnten in unserer Nachbarschaft existiert – auch in der Schweiz –, hat nun auch Deutschland erreicht. Aber die Deutschen haben nach wie vor eine höhere Immunität gegenüber dem Rechtspopulismus.
Was an der jüngeren Vergangenheit des Landes liegt?
Es hat sicher mit der kollektiven Erinnerung an die Katastrophe, an die Verbrechen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu tun. Das ist in Deutschland über den Geschichtsunterricht sehr stark in den Köpfen der meisten Leute – jedenfalls im alten Westdeutschland.
Zwei totalitäre Systeme haben im 20. Jahrhundert Millionen Tote gefordert: Nationalsozialismus und Kommunismus. Beide Ideologien sind deutschen Ursprungs. Wie erklären Sie das?
So eindeutig ist das nicht. Zwischen Frankreich und Deutschland ist offen, wer der Erfinder des Sozialismus ist – die französischen Frühsozialisten oder doch erst Karl Marx? Marx hat interessanterweise den grössten Teil seines Schriftstellerlebens im Ausland verbracht. Aber von der Art seines Denkens her war er zutiefst deutsch. Jedenfalls haben die Napoleonischen Kriege den Nationalismus als Gegenreaktion in Deutschland erst hervorgebracht. Der Hintergrund Ihrer Frage ist aber wohl ein anderer.
Welcher?
Die Deutschen haben solche Ideen immer dramatisch zugespitzt. Der Dichter Heinrich Heine hat über die Deutschen gesagt, sie seien ein ideologisch gründliches Volk – das, womit die anderen mit leichter Hand anfangen, wird hier gleich zu einem grossen System ausgebaut und radikalisiert. Vielleicht liegt es daran, dass die Deutschen erst spät zu ihrer Nationenbildung gekommen sind. Nochmals Heine: Was die anderen an Realität haben, haben die Deutschen im Bereich der Idealität immer überboten.
Nun ziehen siebzig Jahre nach der Nazi-Diktatur Geschichtsrevisionisten in das deutsche Parlament ein.
Wenn es nur Geschichtsrevisionisten wären, würde mich das nicht weiter beunruhigen. Die Geschichte der Geschichte ist ja die permanente Revision und Neulektüre. Es geht hier aber um Leute, die ausgesprochen völkische bis rassistische Vorstellungen hegen. Das ist schon irritierend. Allerdings repräsentiert die Gruppe der AfD-Abgeordneten nicht unbedingt die Gesamtheit ihrer Wählerschaft. Die Nachwahlbefragungen haben sehr deutlich gezeigt, dass mehr als 50 Prozent der AfD-Wähler der Politik einen Denkzettel verpassen wollen – was auch immer auf diesem Denkzettel steht.
Wird sich die AfD langfristig etablieren?
Dass die AfD in vier Jahren wieder weg sein wird, glaube ich nicht. Aber sie wird wahrscheinlich deutlich schwächer werden, weil sich in den vier Jahren wohl zeigen wird, dass sie für die zentralen Probleme dieses Landes keine Antworten hat. Der Prozess der Selbstzerlegung hat ja schon begonnnen.
Die anderen Parteien haben es doch in der Hand, wie erfolgreich die AfD ist.
Die müssen natürlich schauen, dass sie die Probleme lösen.
Welche Probleme meinen Sie?
Die erste Herausforderung ist es, die Integration zu stärken – und es endlich zu schaffen, über ein entsprechendes Einwanderungsgesetz diejenigen hereinzuholen, die in den deutschen Arbeitsmarkt passen. Das würde das völlig überforderte Asylverfahren entlasten. Asyl sollte wieder ein individuelles Recht im Hinblick auf individuelle Verfolgung werden und nicht eine Tür, durch die die Massen kommen.
Für die deutsche Willkommenskultur wurde die Kanzlerin massiv kritisiert. Wird sie die ganze Legislatur in ihrem Amt bleiben?
Wenn sie vernünftig ist und ihren eigenen Interessen und ihrem Instinkt folgt, wird sie 2019 oder 2020 den Staffelstab an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin weitergeben. Da stellt sich die Frage, wer das sein kann.
Sie hat keinen Nachfolger aufgebaut.
Das ist einerseits ein Vorteil, weil niemand hinter ihr Druck macht. Andererseits dürfte ihr auch klar sein, dass sie bei einer Kandidatur für eine fünfte Amtszeit die Wahl verlieren würde, weil die Öffentlichkeit ihrer dann überdrüssig sein wird. Darum wird in den nächsten Monaten und Jahren die spannende Frage lauten: Wo kommt der Kronprinz oder die Kronprinzessin her? Das wird auch den Richtungskampf innerhalb der CDU befeuern.
Deutschland gilt als Garant der Stabilität Europas. Was, wenn die deutsche Politik unberechenbarer wird?
Das ist ein Problem, das sich schon in Frankreich zeigte: Der zeitweilige Ausfall der Franzosen in der Tandemführung Europas hatte damit zu tun, dass die sozialistische Regierung immer in den rechten Rückspiegel schaute und sich fragte: Oh Gott, was macht die Blonde?
Marine Le Pen.
Genau. Allein die Präsenz des Front National hat die Handlungsfähigkeit der Regierung in Paris eingeschränkt. Der Aufstieg der AfD wird auch die eine oder andere Folge im Hinblick auf die Beweglichkeit und Kompromissfähigkeit der deutschen Politik haben.
Herfried Münkler (66) gilt als wichtigster deutscher Forscher auf den Gebieten Ideengeschichte und politische Theorie, er schrieb das Standardwerk über Machiavelli, den Begriff des asymmetrischen Krieges hat er mitgeprägt. Münkler lehrt als ordentlicher Professor an der Humboldt-Universität Berlin. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.
Herfried Münkler (66) gilt als wichtigster deutscher Forscher auf den Gebieten Ideengeschichte und politische Theorie, er schrieb das Standardwerk über Machiavelli, den Begriff des asymmetrischen Krieges hat er mitgeprägt. Münkler lehrt als ordentlicher Professor an der Humboldt-Universität Berlin. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.