Wiener Schriftsteller Robert Menasse kritisiert europäische Staatschefs
«Die Totengräber wollen Ärzte sein»

Der Wiener Schriftsteller Robert Menasse hat sich den Idealen der Europäischen Union verschrieben. Mit Blick auf die Migrationskrise geht er mit den Staatschefs hart ins Gericht.
Publiziert: 30.06.2018 um 19:47 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2018 um 15:21 Uhr
Interview: Simon Marti

Herr Menasse, wie blicken Sie als leidenschaftlicher Europäer auf die Schweiz, das vielleicht EU-kritischste Land des Kontinents?
Robert Menasse:
 Die Schweiz ist ein Labor für die Zukunft Europas. Ob sie das nun weiss oder nicht. Der Kanton ist wichtiger als die Nation. Das entspricht den Idealen der Gründerväter der EU, die Nationen zu überwinden um ein Europa der Regionen zu entwickeln. Die Schweiz beweist zudem, dass das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen, Sprachen und Mentalitäten problemlos möglich ist. Womit die Schweizer EU-Skeptiker recht haben, ist, dass es in der EU grosse demokratiepolitische Defizite gibt.

Können diese Defizite behoben werden?
Die europäische Demokratie entwickelt sich Schritt für Schritt, nicht zuletzt durch produktive Kritik. Schauen Sie sich zum Beispiel die Entwicklung des Europäischen Parlaments in den letzten zwanzig Jahren an.

Ein Beitritt der Schweiz ist derzeit undenkbar. Welche Gründe sprechen aus Ihrer Sicht dennoch dafür, dass ein reicher Kleinstaat in der Union aufgehen sollte?
Weil ein reicher Kleinstaat alleine nicht lange reich bleiben wird. Deshalb ist die Schweiz durch eine Vielzahl von Verträgen eng mit der EU verbunden, sodass sich die Frage stellt, warum sie nicht auch mitentscheiden will. Den jungen Schweizern, die in den Genuss des Studentenaustauschprogramms Erasmus gekommen sind, muss man Europa nicht mehr erklären.

Erasmus beschränkt sich auf eine dünne Schicht von Studenten, die sich die Zeit im Ausland leisten können. Es ist ein Elitenprojekt.
Wenn Studenten Stipen­dien bekommen, um an Universitäten in anderen Ländern studieren und Erfahrungen sammeln zu können, dann nennen Sie das ein Elitenprojekt? Ich würde sagen, die Erasmus-Generation ist die Vorhut eines geeinten Europas.

Aber wenn die Bevölkerung keine Nachhut auf dem Weg in die EU sein will?
Die Schweizer Bevölkerung lebt sehr gut von allen möglichen transnationalen Prozessen, zum Beispiel den Finanzströmen, den internationalen Investi­tionen und Gewinnrückführungen, von der Teilhabe am gemeinsamen europäischen Markt und so weiter. Irgendwann wird das seinen politischen Ausdruck in einem gemeinsamen nachnationalen Europa finden. Zu sagen, dass eine fiktive Mehrheit die Zukunft nicht den realen Anforderungen gemäss gestalten, sondern nur den Status quo verewigen will, überzeugt mich nicht. Gerade die Schweizer wissen: Stillstand ist Geschäftsstörung.

Dazu passt, dass Sie sich als Wiener und nicht als Österreicher verstehen. Warum eigentlich?
Nationale Identität war für mich nie ein Angebot. Ich habe als Städter mehr Gemeinsamkeiten zum Beispiel mit Menschen in Bratislava, das 40 Minuten von Wien entfernt ist, als mit Tiroler Bergbauern, fünf Stunden von Wien entfernt, mit denen ich nur den Pass gemeinsam habe. Ich kann Freunde in Tirol haben, aber sicher nicht wegen des Passes, ich kann ja auch Freunde im Alentejo, in Hessen oder auf der Peloponnes haben.

Mit Ihrem Buch «Der Europäische Landbote» schrieben Sie vor sechs Jahren, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, ein flammendes Plädoyer für die EU. In welcher Verfassung ist die Union heute?
Vor sechs Jahren haben wir unter all den Krisen gestöhnt: die Haushaltskrise Griechenlands, die Eurokrise, die Finanzkrise und so weiter. Das alles waren Symptome ein und desselben Widerspruchs: zwischen der nachnationalen Entwicklung, die im Lauf von sechzig Jahren schon relativ weit getragen hat, und der Renationalisierung der Mitgliedstaaten. Das blockiert vernünftige Gemeinschaftspolitik und Handlungsfähigkeit. Eine Reihe von Staatschefs will das europäische Projekt zurückdrehen zu einem Europa der Nationalstaaten. Sie glauben, es genügt die Wirtschaftsgemeinschaft, der gemeinsame Markt. Und jeder Staat kann souverän seine eigene Politik machen. Aber das kann nicht funktionieren. Ein gemeinsamer Markt mit einer gemeinsamen Währung braucht auch eine gemeinsame Finanzpolitik, Fiskalpolitik, Wirtschaftspolitik und so weiter. Also ohne Gemeinschaftspolitik kann es nicht funktionieren. Wer sie im Namen nationaler Souveränität blockiert, wird grösste Misere produzieren.

Wie meinen Sie das?
Der Nationalismus hat Europa in Trümmer gelegt. Das war die Erfahrung der Gründergeneration der EU. Deshalb sollte der Nationalismus überwunden werden. Dieser Anspruch ist nicht nur eine historische Lehre, er erweist sich auch in Hinblick auf unsere Zukunft als vernünftig: Alle grossen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind längst transnational. Globalisierung bedeutet doch nichts anderes als die Zertrümmerung nationaler Souveränität. Und da gibt es nur zwei Möglichkeiten: gemeinsam gestalten oder jeder für sich Schiffbruch erleiden.

Der Einfluss der Mitgliedstaaten wird sich in Brüssel kaum einschränken lassen.
Das ist der Konstruktionsfehler der EU. Es entscheiden die nationalen Regierungschefs, der Europäische Rat. Die Regierungschefs aber wissen: Gewählt werden sie national. Sie müssen also die Fiktion aufrechterhalten, in Brüssel nationale Interessen durchzusetzen. Genau das führt aber zu Krisen, unter denen die Bevölkerungen der Nationalstaaten leiden.

Können Sie ein Beispiel geben?
Die Kommission drängte schon vor 20 Jahren auf eine europäische Asyl- und Migrationspolitik. Sie sah voraus, dass sich Millionen Menschen auf den Weg machen werden. Die Staatschefs haben das regelmässig blockiert, sie hatten Angst, zu Hause sagen zu müssen, es könnten Fremde kommen. Als die Flüchtlinge dann kamen, gab es keinen gemeinsamen Rechtsrahmen, keine Vorkehrungen, so machte jeder Staat, was er wollte. Chaos brach aus. Und dann sagten die nationalen Staatschefs, die EU funk­tioniert nicht, deshalb brauchen wir nationale Lösungen. Das ist der Wahnsinn. Die Totengräber wollen Ärzte sein.

Der Einfluss der Nationalstaaten wächst. Die Zukunft der Union steht auf der Kippe.
Entweder geben die Staaten mehr Souveränität nach Brüssel ab und es gelingt längerfristig, die Nationalstaaten zu überwinden. Oder aber Orban, Kurz, Seehofer und wie sie alle heissen, spielen ihr dreckiges Spiel weiter in der Hoffnung auf ein paar Wählerstimmen. Dann kracht das Ding zusammen. Und jene, die die EU kaputt gemacht haben, werden dann vor den rauchenden Trümmern stehen und pathetisch rufen: Das darf nie wieder geschehen.

Die Migration war Thema des EU-Krisen-Gipfels diese Woche. Glauben Sie, dass die gemeinsame Erklärung doch wieder zu mehr Gemeinschaftspolitik führt?
Sie haben sich auf einen gemeinsamen Text geeinigt, aber nicht auf gemeinsames Handeln. Die Einigung darauf, dass jeder weiterhin machen kann, was er will, und das «freiwillig», wird als Einigung verkauft. «Einigung» klingt schön. Man kann auch sagen: Ratten schrubben das sinkende Schiff.

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