Wie verträgt sich das mit der Initiative gegen die Masseneinwanderung, Herr Bundespräsident?
Schneider-Ammann will Lehrlinge aus dem Ausland

Der Schweiz fehlt es massiv an Lehrlingen! Rund 94'000 Lehrstellen dürften im August laut Wirtschaftsdepartement zur Verfügung stehen. Davon könnten allerdings rund 8500 unbesetzt bleiben.
Publiziert: 14.06.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 05:41 Uhr
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«Wir gewinnen noch die eine oder andere neue Fachkraft. Das nützt allen.» Johann Schneider-Ammann (64)
Foto: Peter Gerber
Ruedi Studer

Ein Luxusproblem! Doch ­eines, welches Bundespräsident ­Johann Schneider-Ammann (64) Sorgen macht. Am FDP-Fraktionsausflug tönte er an, dass er die offenen Stellen nicht unbesetzt lassen möchte. So könnten etwa mehr Jugendliche aus dem Ausland rekrutiert werden. BLICK fragte nach, wie der Wirtschaftsminister die Lehrlingslücke füllen will.

BLICK: Herr Bundesprä­sident, Sie rechnen mit 8500 unbesetzten Lehrstellen. Genügend Lehrstellen sind doch eine gute Nachricht!
Johann Schneider-Ammann:
Wir haben in der Schweiz ein Überangebot an Lehrstellen. Das heisst, es hat grundsätzlich genug Lehrstellen für die Jungen, das ist eigentlich fantastisch. Als wir vor 15 Jahren die Lehrstellenkonferenz ins Leben gerufen haben, herrschte ein Unterangebot. Die Lehrbetriebe und Lehrmeister bieten den Jungen weiterhin Ausbildungsjobs an. Das ist nicht selbstverständlich. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Schulabgänger. Jetzt stellt sich die Frage: Was machen wir mit den Tausenden offenen Lehrstellen?

Was schlagen Sie vor?
Wir versuchen bereits heute, gezielt noch mehr Schweizer Jugendliche in Ausbildung und Arbeitsmarkt zu integrieren: Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation hat das Projekt Match-Prof lanciert. Zusammen mit den Verbundpartnern – also Kantonen sowie Branchen- und Berufsverbänden – wollen wir offene Lehrstellen und Jugendliche, die noch eine Lehrstelle suchen, besser zusammenbringen. Verschiedene Kantone, etwa Bern, engagieren sich mit dem Bund dafür. Zudem versucht der Bundesrat mit einem Pilotprojekt, junge Flüchtlinge in der Schweiz mit ­einem Vorkurs in eine Berufslehre und damit in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Trotzdem wollen Sie auch verstärkt auf Lehrlinge aus dem Ausland setzen?
Wir sollten nicht Massnahmen von vornherein ausschliessen, denn bisher können wir die Lücke nicht füllen. Und: Wir haben in der Schweiz zu wenige inländische Fachkräfte. Mit der Fachkräfte-Initiative arbeiten wir daran, dies zu ändern. Aber das braucht Zeit. Vor allem in den Grenzkantonen Basel, Genf und auch im Tessin gibt es bereits Lernende aus dem Ausland. Ich finde das interessant.

Inwiefern ist es interessant für Sie?
Wenn wir motivierten Jugendlichen aus den Nachbarländern eine Chance geben, können wir offene Lehrstellen besetzen. Gleichzeitig gewinnen wir nach deren Lehre noch die eine oder andere neue Fachkraft. Das nützt allen.

Aber nicht, wenn die Betroffenen nach der Lehre in die Heimat zurückkehren.
In diesem Fall stärkt der Lehrabgänger die Wirtschaft der Nachbarländer, unserer wichtigsten Handelspartner. Davon profitieren wir indirekt.

An wie viele der 8500 Stellen denken Sie?
Ohne eine Zahl zu nennen – jeder Einzelne muss integriert und betreut sein. Das ist aufwendig. Derzeit dreht es sich wohl um einige wenige. So werden nach und nach Erfahrungen gesammelt.

Ihre Idee widerspricht doch der Masseneinwanderungs-Initiative!
Ich glaube nicht, dass jemand auf die Idee kommt, dass damit die Initiative unterlaufen wird. Das dürfte auch nicht sein. Ich bin mir sicher, auch bei den Befürwortern der Initiative gibt es Verständnis dafür, wenn in den Grenzregionen einige junge Menschen aus dem Ausland bei uns eine Lehrstelle finden – und damit eine Lehrstelle besetzen, die trotz der Bevorzugung von Schweizer Jugendlichen bei uns keiner will.

Risikoreich, aber prüfenswert

Noch vor nicht allzu langer Zeit zitterten Jugendliche um die wenigen Lehrstellen. Jetzt suchen Firmen verzweifelt Lehrlinge. Der Wind hat so stark gedreht, dass Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann unkonventionelle Massnahmen zur Diskussion stellt: Jugendliche aus Nachbarländern sollen die freien Lehrstellen übernehmen.

Vor dem Hintergrund, dass die Bevölkerung am 9. Februar 2014 für die Begrenzung der Zuwanderung gestimmt hat, mögen die Überlegungen des Bundespräsidenten risikoreich erscheinen. Immerhin würden mehr ausländische Stifte die Zahl der Grenzgänger erhöhen. Mit Blick auf die Masseneinwanderungs-Initiative ist das nicht unproblematisch.

Trotzdem sollte der Vorschlag des Wirtschaftsministers ­unvoreingenommen geprüft werden. Immerhin ist die Wirtschaft auf Grenzgänger-Lehrlinge angewiesen, die Firmen machen gute Erfahrungen. Und praktisch alle Grenzkantone haben kein Problem mit diesen Lehrlingen.

Noch vor nicht allzu langer Zeit zitterten Jugendliche um die wenigen Lehrstellen. Jetzt suchen Firmen verzweifelt Lehrlinge. Der Wind hat so stark gedreht, dass Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann unkonventionelle Massnahmen zur Diskussion stellt: Jugendliche aus Nachbarländern sollen die freien Lehrstellen übernehmen.

Vor dem Hintergrund, dass die Bevölkerung am 9. Februar 2014 für die Begrenzung der Zuwanderung gestimmt hat, mögen die Überlegungen des Bundespräsidenten risikoreich erscheinen. Immerhin würden mehr ausländische Stifte die Zahl der Grenzgänger erhöhen. Mit Blick auf die Masseneinwanderungs-Initiative ist das nicht unproblematisch.

Trotzdem sollte der Vorschlag des Wirtschaftsministers ­unvoreingenommen geprüft werden. Immerhin ist die Wirtschaft auf Grenzgänger-Lehrlinge angewiesen, die Firmen machen gute Erfahrungen. Und praktisch alle Grenzkantone haben kein Problem mit diesen Lehrlingen.

Kantone machen gute Erfahrungen

Bern/Basel/Genf – Was ­Bundespräsident Schneider-Ammann fordert, ist in vielen Schweizer Grenzregionen längst Realität. Werden Mitte August beim Pharmakonzern Roche in Basel und Kaiseraugst AG rund 100 Berufseinsteiger ihre Lehre beginnen, bedeutet das für viele von ihnen ein Neuanfang im Ausland. Roche-Sprecher Karsten Kleine sagt: «Rund 20 Prozent unserer Lehrlinge sind Grenzgänger.» Für das Unternehmen sei es «seit jeher selbstverständlich», auch Lehrlinge aus dem grenznahen Ausland auszubilden. Roche ist nicht die einzige Firma mit Sitz in Basel, die auf Lehrlinge aus dem Ausland setzt. René Diesch vom Basler Erziehungsdepar­tement sagt: «Grenzgänger sind in unserem Kanton eine wichtige Klientel.»

Im Halbkanton sind derzeit noch 260 Lehrstellen in 63 Berufen ausgeschrieben. Baselland hat derweil allein auf dem Lehrstellenportal Lena noch rund 560 Stellen zu vergeben. «Jede besetzte Lehrstelle ist ein Erfolg», sagt Jürg Schneider vom Amt für Berufsbildung und Berufsberatung des Kantons Baselland. Im vergangenen Jahr seien 2,4 Prozent der Lehrverträge von Grenzgängern unterschrieben worden. «Aufgrund ihrer geringen Anzahl sind sie keine Konkurrenz für Schweizer Jugendliche», betont Schneider.

In Genf ist die Zahl der Grenzgänger unter den Lehrlingen rund doppelt so hoch. «Sie beträgt rund fünf Prozent», sagt Grégoire Evéquoz, Direktor des kantonalen Amts für Berufs­bildung. Die Zahl sei nicht höher, weil das Modell Berufslehre in Frankreich relativ unbekannt sei, erklärt er. Auf mehr ausländische Lehr­linge sei man aber auch nicht angewiesen. «Zwar sind aktuell noch viele Lehrstellen ausgeschrieben.» Dies liege allerdings daran, dass in der Romandie oftmals erst im September Lehrverträge unterzeichnet werden. Evéquoz: «Am Schluss werden die meisten Lehrstellen besetzt sein.» Lea Hartmann

Bern/Basel/Genf – Was ­Bundespräsident Schneider-Ammann fordert, ist in vielen Schweizer Grenzregionen längst Realität. Werden Mitte August beim Pharmakonzern Roche in Basel und Kaiseraugst AG rund 100 Berufseinsteiger ihre Lehre beginnen, bedeutet das für viele von ihnen ein Neuanfang im Ausland. Roche-Sprecher Karsten Kleine sagt: «Rund 20 Prozent unserer Lehrlinge sind Grenzgänger.» Für das Unternehmen sei es «seit jeher selbstverständlich», auch Lehrlinge aus dem grenznahen Ausland auszubilden. Roche ist nicht die einzige Firma mit Sitz in Basel, die auf Lehrlinge aus dem Ausland setzt. René Diesch vom Basler Erziehungsdepar­tement sagt: «Grenzgänger sind in unserem Kanton eine wichtige Klientel.»

Im Halbkanton sind derzeit noch 260 Lehrstellen in 63 Berufen ausgeschrieben. Baselland hat derweil allein auf dem Lehrstellenportal Lena noch rund 560 Stellen zu vergeben. «Jede besetzte Lehrstelle ist ein Erfolg», sagt Jürg Schneider vom Amt für Berufsbildung und Berufsberatung des Kantons Baselland. Im vergangenen Jahr seien 2,4 Prozent der Lehrverträge von Grenzgängern unterschrieben worden. «Aufgrund ihrer geringen Anzahl sind sie keine Konkurrenz für Schweizer Jugendliche», betont Schneider.

In Genf ist die Zahl der Grenzgänger unter den Lehrlingen rund doppelt so hoch. «Sie beträgt rund fünf Prozent», sagt Grégoire Evéquoz, Direktor des kantonalen Amts für Berufs­bildung. Die Zahl sei nicht höher, weil das Modell Berufslehre in Frankreich relativ unbekannt sei, erklärt er. Auf mehr ausländische Lehr­linge sei man aber auch nicht angewiesen. «Zwar sind aktuell noch viele Lehrstellen ausgeschrieben.» Dies liege allerdings daran, dass in der Romandie oftmals erst im September Lehrverträge unterzeichnet werden. Evéquoz: «Am Schluss werden die meisten Lehrstellen besetzt sein.» Lea Hartmann

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