Streit um Rahmenabkommen
Lohnschutz ist auch in der EU ein Zankapfel

Sind die flankierenden Massnahmen der Schweiz wirklich so viel besser als der Lohnschutz in der EU? Über diese Frage ist ein heftiger Streit entbrannt. BLICK macht den Vergleich.
Publiziert: 11.08.2018 um 01:13 Uhr
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Aktualisiert: 03.07.2019 um 20:20 Uhr
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In Bundersbern ist der Teufel los: Gewerkschaftsboss Paul Rechsteiner hat den Verhandlungstisch verlassen. Er weigert sich, mit Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann über die flankierenden Massnahmen zu verhandeln.
Foto: THOMAS HODEL
Sermîn Faki

«Das Schutzniveau der EU und jenes der Schweiz sind nicht vergleichbar», sagt Gewerkschaftsboss Paul Rechsteiner (65) derzeit jedem, der es hören will. Der St. Galler SP-Ständerat begründet damit seinen Boykott der Verhandlungen mit Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (66) über die Anpassung der Flankierenden Massnahmen (Flam). Brüssel besteht auf Änderungen, damit es beim Rahmenabkommen weitergehen kann.

Für Rechsteiner und seine Gewerkschafter ist klar: So soll der hohe Schweizer Lohnschutz torpediert werden. Ihre Gegenspieler aus Politik, Wirtschaft und Recht sagen: Chabis – der Schutz vor Lohndumping in der EU sei ebenso hoch.

Die EU hat die Regeln verschärft

Fakt ist: Erst diesen Frühling hat die EU die sogenannte Entsenderichtlinie verschärft. Diese soll – wie die Schweizer Flam – dafür sorgen, dass Firmen, die im Ausland tätig sind, die dort gültigen Löhne zahlen und Arbeitsbedingungen einhalten.

Die Verschärfungen sind nicht ohne: Mussten ausländische Unternehmen bisher nur den landesüblichen Mindestlohn zahlen, sollen sie künftig den ortsüblichen Tariflohn und zudem auch auch Weihnachts- oder Feriengeld zahlen. Kost und Logis dürften nicht mehr vom Lohn abgezogen werden. Allerdings: Die Richtlinie tritt erst 2020 in Kraft – und dürfte je nach EU-Staat unterschiedlich umgesetzt werden.

Von EU-Staat zu EU-Staat unterschiedlich

Schon in den letzten Jahren haben einige Länder ihre Gesetze gegen Lohndumping verschärft, darunter Frankreich und Italien. Andernorts wie in Österreich wurden die Hürden eher abgebaut. Das hatte Folgen, so der Zentralsekretär des Österreichischen Gewerkschaftsbundes: «In Österreich galt bis 2016 eine Meldefrist. Diese und weitere Massnahmen mussten auf Druck der EU abgeschafft werden», schrieb Bernhard Achitz (53) Anfang Juli in einem Brief an Rechsteiner. Dadurch sei der Kampf gegen Lohndumping schwieriger geworden. «Besonders in den östlichen Bundesländern und der Baubranche ist die Situation sehr problematisch geworden», so Achitz.

Einer, der den direkten Vergleich hat, ist Christoph Arnold (41), Leiter Europapolitik von Handwerk International Baden-Württemberg. Denn die süddeutschen Handwerksbetriebe sind sowohl in Österreich als auch in Frankreich und der Schweiz tätig.

Der bürokratische Aufwand ist gewachsen – an jeder Grenze

Besonderes Ärgernis der Flam ist gemäss Arnold, dass sich Unternehmen acht Tage vor einem Einsatz in der Schweiz anmelden müssen. Auch wenn das in den meisten Fällen unproblematisch sei: «Wir können das Argument, dass man acht Tage braucht, um Kontrollen zu organisieren, nicht nachvollziehen. Österreich schafft eine hohe Kontrolldichte ohne so viel Vorlaufzeit.»

Allerdings schränkt Arnold ein: Der bürokratische Aufwand sei nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Frankreich und Österreich stetig gewachsen. Das treffe vor allem die grenznahen KMU. «Wir wissen von Fällen, in denen sich Handwerker aus dem langjährigen Frankreich-Geschäft zurückgezogen haben», sagt er.

Italien

Italien hat den Lohnschutz vor zwei Jahren verschärft. Begründet wurde dies mit dem beunruhigenden Anstieg des Sozialdumpings, zum Beispiel auf den Gemüse- und Fruchtplantagen. So gelten nun für die entsandten Arbeitnehmer italienische Arbeitsbedingungen. Und die haben es in sich: Je nach Ort, Region und Berufsbranche diktieren die in Italien starken Gewerkschaften zusätzlich zu den Gesetzen Mindestlohn und -ferien, Höchstarbeitszeit sowie Massnahmen für Sicherheit, Gesundheit oder Gleichberechtigung.
Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter nach Italien schicken, müssen diese zudem neu spätestens am Vortag der Einreise anmelden. Das geht nur noch über ein Internetportal des Arbeitsministeriums. Zudem muss das Unternehmen bis zwei Jahre nach der Entsendung eine Reihe von Unterlagen wie Lohn- und Stundenzettel bereithalten und einen Ansprechpartner mit Adresse in Italien bestimmen, der Akten und Dokumente empfangen und verschicken kann. Damit das alles eingehalten wird, gibt es ein Inspektorat. Dieses hilft auch Arbeitnehmern, die sich schlecht behandelt fühlen.

Österreich

Auch in Österreich müssen ausländische Firmen Mitarbeiter, die sie entsenden, vorher anmelden, via elektronisches Formular. Die Anmeldung muss vor Beginn der Arbeit erfolgen. Bis 2016 galten längere Fristen. Ob der ortsübliche Lohn gezahlt wird, kontrolliert der Staat. Dafür muss der Arbeitnehmer immer Dokumente bei sich haben: Anmeldung, Sozialversicherungsnachweis, Arbeitsvertrag, Lohnnachweise – alles auf Deutsch. Besonders häufig kommt es in der Baubranche zu Verstössen: 2017 betrug die Sozialdumping-Quote bei Entsendungen 44,5 Prozent. Bei vorsätzlichem Unterschreiten der Mindestlöhne muss der Arbeitgeber mit Sanktionen rechnen. In der Praxis können die ausländischen Lohndumper jedoch selten zur Verantwortung gezogen werden – denn Strafbefehle bei Sozialbetrug können nicht europaweit ausgeschrieben werden. Österreich setzt sich daher dafür ein, dass die EU eine europäische Arbeitsmarktbehörde schafft – und dass deren Sitz Wien ist.

Frankreich

Wer Arbeitnehmer nach Frankreich schicken will, muss sich durch ziemlich viel Papier wühlen – und Französisch können: Wie in Österreich und Italien muss man die Arbeiter namentlich anmelden, bevor sie das erste Werkzeug in die Hand nehmen dürfen. Die Anmeldung muss in der Landessprache erfolgen und bereits Angaben zu Lohn, Arbeitszeiten und eventuell auch Unterkunft enthalten. Die entsandten Arbeiter müssen viele Dokumente mit sich herumtragen: Krankenkassennachweis, Auftragsbestätigung, ja sogar den Gesellschaftervertrag des Unternehmens. Das Unternehmen muss zudem einen Vertreter in Frankreich benennen, der alle erforderlichen Unterlagen bereithält und sogar telefonisch erreichbar sein muss.
Die Liste der Pflichten ist lang und wer dagegen verstösst, muss Strafen hinnehmen. Fehlverhalten wird mit bis zu 2000 Euro geahndet.

Deutschland

Deutschland war im Jahr 2016 mit rund 440'000 Personen das Hauptzielland für entsandte Arbeitnehmer aus anderen Staaten der EU. Eine Meldepflicht kennt der nördliche Nachbar allerdings nur für Branchen, die besonders Schwarzarbeit-gefährdet sind. Dazu gehören unter anderem Baugewerbe, Fleischwirtschaft, Hotellerie und Gastronomie. In diesen Branchen müssen die Arbeitgeber ihre Arbeiter elektronisch an den deutschen Zoll melden, der auch kontrolliert, ob die Standards eingehalten werden. Etwa 6500 Beamte stehen dafür zur Verfügung. Wie viele Kontrollen 2017 spezifisch bei EU-Ausländern durchgeführt wurden, lässt sich nicht sagen. Allerdings wurden über 130'000 Ermittlungsverfahren wegen Lohn- und Sozialdumping eingeleitet und Bussen von mehr als 30 Millionen Euro ausgesprochen. Zum Vergleich: In der Schweiz wurden 44'000 Kontrollen durchgeführt, 2600 Bussen und 3700 Sperren ausgesprochen.

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