Wir sitzen hier in den Walliser Bergen. Was wollen Sie persönlich an der Sommer-Uni der SP noch lernen?
Christian Levrat: Der Austausch mit unseren Mitgliedern ist mir wichtig. Es sind 120 Leute hier, Jahrgang 1936 bis 1996, aus allen Regionen der Schweiz. Wenn so viel Wissen und Erfahrung versammelt sind, kann man immer dazulernen.
Auf welche Fragen suchen Sie hier Antworten?
Wir haben viel über die internationale Situation gesprochen, insbesondere in der Ukraine. Es gibt Tendenzen, die schwer an den Anfang des Ersten Weltkriegs erinnern.
Haben Sie Angst vor einem Krieg?
Ja, sicher. Krieg macht immer Angst. Jeder vernünftige Politiker sollte alles tun, damit wir in einer friedlichen und sicheren Gesellschaft leben können.
Soll die Schweiz Sanktionen ergreifen?
Die Linie von Bundesrat Burkhalter ist sinnvoll. Was die Schweiz bei dieser Eskalation mit eigenen Sanktionen beitragen könnte, ist für mich rätselhaft. Wir sollten versuchen, den Dialog zwischen den Fronten aufrechtzuerhalten.
Was beschäftigt Sie innenpolitisch?
Die Entwicklung von einem gesunden Patriotismus hin zu einem fanatischen Nationalismus.
Was genau meinen Sie?
Beispielsweise aktuell die heftigen Reaktionen auf die Vorschläge zur Friedensfahne am 1. August von Juso-Chef Fabian Molina. Darauf hat er Morddrohungen erhalten. Das habe ich auch nach der Gripen-Abstimmung beobachtet. Es gibt eine radikalisierte Minderheit, die immer lauter wird.
Wo sah man dies nach der Gripen-Abstimmung?
Ich habe Morddrohungen erhalten, und zwar nicht wie ab und zu von Aussenseitern oder Durchgedrehten. Das waren etablierte Leute. So hat mich ein Metzger einer kleinen Stadt mit dem Tod bedroht. Das ist eine neue Dimension.
Solche Morddrohungen sind schlimm, machen aber noch keinen fanatischen Nationalismus aus.
Nein. Aber Ausländer werden heute wieder stärker attackiert. Gegenüber Franzosen werden in der Romandie Dinge ausgesprochen, die seit Jahrzehnten in der Schweiz nicht mehr gesagt wurden.
Was bekommen Franzosen zu hören?
Frankreich werden imperialistische Tendenzen vorgeworfen, da werden alle Klischees bemüht. Das kennt man in der Deutschschweiz auch gegenüber Deutschen. Die Härte ist aber neu.
Auch die Gewerkschaften thematisieren Zuwanderung als Bedrohung für Schweizer Arbeiter.
Wir müssen Lehren aus der Zuwanderungsinitiative ziehen. Wir müssen den Fokus auf die Befähigung der hiesigen Arbeitskräfte legen. Es sind aber Welten zwischen dieser Position und der selbstgefälligen Haltung, dass die Schweiz immer alles besser macht und alle anderen Deppen sind. Und es sind diese Welten, die zwischen Frieden und Krieg entscheiden. Die Schweiz ist dabei zu verraten, was den Erfolg der Schweiz ausmacht.
Was meinen Sie?
Die Offenheit, die Überzeugung, dass die Schweiz nur im globalen Kontext gewinnen kann. Die Überzeugung, dass die Schweiz eine besondere Rolle spielt im Bereich der Menschenrechte, beim Schutz von Verfolgten. Heute werden diese Elemente in Frage gestellt durch jene, die für sich in An-spruch nehmen, die Schweiz zu vertreten.
Meinen Sie die SVP, die eine noch radikalere Asyl-Initiative ankündigt?
Das ist ein Verrat an der Schweiz, denn es ist gegen unsere Tradition. Bisher hat sich die SVP auf die Verschärfung der geltenden Bestimmungen beschränkt. Nun kämpft sie ohne Maske und stellt sich zum ersten Mal generell gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Sie will zum Beispiel eine syrische Frau mit ihren vier Kindern ausweisen. Das ist die konkrete Umsetzung dieser Initiatividee. Das ist beschämend, aber nicht überraschend. Die SVP ist gefangen in der Logik ihrer Radikalisierungs-Spirale, wo die Vorschläge logischerweise irgendwann nur noch absurd sind. Dieser Tag ist da.
Die EU hat eine klare Absage an Nachverhandlungen zur Personenfreizügigkeit gemacht. Was ist jetzt mit der Masseneinwanderungs-Initiative zu tun?
Wir werden den Wortlaut der Initiative nicht umsetzen können, weil Kontingente und Inländervorrang nicht mit den bilateralen Verträgen vereinbar sind. Deswegen muss die Initiative anders ausgelegt werden.
Wie?
Man muss das Potenzial von Senioren, Frauen und generell Menschen, die in der Schweiz wohnen, besser ausnützen. Arbeitgeber müssen sich an Integrationskosten beteiligen. Es braucht ein Bündel von wirtschaftspolitischen Massnahmen, das zur indirekten Steuerung der Migration führt. Denn eine direkte fremdenpolizeiliche Steuerung wird nicht möglich sein. Es ist die Aufgabe der konstruktiven Kräfte, einen Alternativplan auf den Tisch zu legen.
Also keine Kontingente.
Keine Kontingente.
Dann muss das Volk nochmals abstimmen, oder?
Gegen die Umsetzung der SVP-Initiative wird sicher das Referendum ergriffen. Das Volk kann dann sagen, ob es die wirtschaftspolitische Umsetzung will oder auf Kontingenten beharrt und damit die Bilateralen riskiert.
Warum fassen Sie persönlich das Thema EU-Beitritt immer wie eine heisse Kartoffel an?
Ich bin überzeugt, dass wir längerfristig der EU beitreten.
Und wollen Sie das?
Das sehen wir dann. Es ist eine Frage des Tempos.
Das sehen wir dann?
Ich weiss um die Stimmung in der Bevölkerung. Es gibt realpolitische Fragen, die vorgehen.
Aber Sie haben zum Beitritt doch eine Meinung.
Ja. Ich bin immer für eine aktive Mitgliedschaft statt einer passiven. 70 Prozent unserer Gesetze sind EU-Gesetzgebung. Unser nationaler Handlungsspielraum ist schon lange nicht mehr grösser als der eines EU-Staates.
Die SP befindet sich kantonal und national schon länger im Krebsgang. Sie liegt unter ihrem Potenzial.
Unser Potenzial ist grösser, das stimmt. Aber wir hatten thematisch einige Erfolge und haben bei den kantonalen Wahlen zugelegt.
Was ist nun Ihr Wahlziel?
20 Prozent.
Was ist Ihr Wahlmotto?
Für alle statt für wenige.
Das sagen Sie seit längerem.
Das Motto ist auch immer richtiger. Wenn ich sehe, wie sich unsere politische Konkurrenz nur für Sonderinteressen wie von Banken, der Industrie oder aktuell der Krankenkassenbranche einsetzt.
Die Mindestlohn-Initiative wurde abgeschmettert. Offenbar zieht das Thema soziale Gerechtigkeit nicht.
Doch. Die ganze Schweiz hat über die Höchstlöhne und Tiefstlöhne gesprochen. 1:12 hat monatelang die Diskussion im Land dominiert. Das Volk hat sich lediglich gegen gesetzliche Lösungen ausgesprochen.
Das ist eine kreative Umdeutung. Wo ist die Hoffnung, dass das Thema zieht?
Das Problem stellt sich. Nach wie vor verdienen über 300'000 Personen weniger als 4000 Franken. Das wollen wir nicht hinnehmen. Unsere Politik erfinden wir nicht auf einem weissen Blatt Papier, sondern sie ist die Antwort auf reale Probleme: Es braucht gute Arbeit mit korrekten Löhnen, im Bereich Bildung mehr Chancengerechtigkeit, zahlbare Wohnungen, gute Renten und solide Sozialversicherungen.
Wie soll die Regierung nach den Wahlen 2015 aussehen?
In jedem Fall wollen wir eine rechte FDP/SVP-Mehrheit verhindern. Die Legislatur mit Blocher und Merz war nicht nur eine verlorene Legislatur, das war eine Katastrophe. Die Leistung des heutigen Bundesrats ist hingegen in Ordnung, auch wenn ich längst nicht mit allem einverstanden bin.
Damit wäre auch Eveline Widmer-Schlumpf wieder dabei. Aber man kann der Minipartei BDP doch nicht nochmals einen Bundesratssitz geben.
Das sehen wir dann. Es gibt neben der Arithmetik auch eine politische Realität. Die FDP sucht bereits Listenverbindungen mit der SVP, verlässt immer stärker ihr liberales Gedankengut, um sich den Nationalkonservativen anzugleichen. So sehe ich keine Rechtfertigung für eine Mehrheit von FDP und SVP im Bundesrat.