Bern putzt sich heraus: Jean-Claude Juncker (62) besucht heute die Bundesstadt. Der höchste Vertreter der Europäischen Union (EU) wird ein dickes Vertragswerk im Aktenkoffer mitführen – ein Abkommen zur Verknüpfung der Emissionshandelssysteme. Dieses werden Juncker und Bundespräsidentin Doris Leuthard (54) feierlich unterzeichnen.
Der neu geregelte Anreiz-Mechanismus, der Treibhausgase reduzieren soll, geht so: Jene Firmen, die sauberer werden und weniger Schadstoffe ausstossen als vorgesehen, können Verschmutzungszertifikate verkaufen und somit Geld verdienen. Jene, die mehr Treibhausgase produzieren, müssen Zertifikate hinzukaufen. Künftig können Schweizer Firmen nun also europaweit mitdealen.
Hunderte Verträge seit 1972
Es ist ein weiteres der unzähligen bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU. 20 Hauptabkommen und Hunderte weitere Verträge sind seit 1972 ratifiziert worden. Damals trat die Schweiz dem europäischen Freihandelsabkommen bei; es war der Startschuss der schweizerisch-europäischen Integration.
Für den Bundesrat und die Parteien, mit Ausnahme der SVP, sind die Abkommen enorm bedeutend. Und die allermeisten funktionieren reibungslos. Probleme gibt es allerdings bei den Bestrebungen, in neuen Feldern vertieft zusammenzuarbeiten: Seit einem Jahrzehnt ist kein neues Marktzutrittsabkommen zustande gekommen.
Fremde Richter als unüberwindbare Hürde
Dies vor allem deshalb, weil ein institutionelles Rahmenabkommen fehlt. Eine automatische Übernahme von neuem EU-Recht und eine Streitschlichtung durch «fremde» Richter sind hierzulande derzeit nicht mehrheitsfähig. Wie ein Damoklesschwert hängt zudem die SVP-Selbstbestimmungs-Initiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» über den zähen Verhandlungen. Bis diese 2018 oder 2019 vors Volk kommt, wird Stillstand herrschen.
Ohne Fortschritte beim Rahmenabkommen und nach dem Ja zur SVP-Masseneinwanderungs-Initiative sistierte Brüssel 2014 alle Gespräche über neue Bilaterale, später blockierte die EU auch die Aktualisierung bestehender Verträge. Stillstand herrscht deshalb beim Energieabkommen. Mit einem solchen würde die Schweiz vollumfänglichen Zutritt zum europäischen Strommarkt erhalten. Ein Rahmenabkommen wünscht der Bundesrat zudem für Einsätze zur Friedensförderung unter dem EU-Schirm – bislang erfolglos.
Fliesst heute die Ostmilliarde?
In grossen Schritten vorwärts gehts hingegen bei der Kohäsionsmilliarde, die kein Abkommen darstellt, sondern einen «freiwilligen» Beitrag der Schweiz. Die Bundesräte dürften Juncker heute mit prall gefüllten Sparschweinchen empfangen und die Gelder sprechen.
Im Gegenzug macht die EU Dampf bei der Äquivalenzerklärung: Bis Ende Jahr soll die Schweizer Börse als gleichwertiger Handelsplatz für Aktien anerkannt sein. Und auch beim Beitritt der Schweiz zur Eisenbahnagentur, die das Ziel hat, das europäische Zugnetz zu harmonisieren, sollten die Verhandlungen bald starten.
Um die beiden grössten Streitereien der letzten Jahre – Migration und Steuern – ist es ruhig geworden. Die SVP-Initiative, die Zuwanderungskontingente verlangte, hat Bundesbern einzig mit einem Arbeitslosenvorrang umgesetzt. Das Freizügigkeitsabkommen wird nicht tangiert, Brüssel ist zufrieden – zumindest für die nächsten Jahre. Dann droht mit der SVP-Kündigungs-Initiative der nächste Bruch.
Nach der Eiszeit herrscht Tauwetter
Im Steuerstreit mit der EU hat Bundesbern mit der USR III auf den Befreiungsschlag gehofft. Doch das Volk hat die Unternehmenssteuerreform bachab geschickt. Die von der EU geächtete Sonderbesteuerung für Holdings sind bis auf weiteres legal und werden auch praktiziert. Gelingt die Abschaffung durch eine Neuauflage der Reform aber wieder nicht, steigt die EU mit Sicherheit auf die Barrikaden.
All dies wird beim heutigen Juncker-Besuch nur am Rande Thema sein. Die Visite soll Harmonie und Freundschaft ausstrahlen. Nach den dunklen, von Steuer- und Zuwanderungsstreitereien geprägten Jahren soll Tauwetter einkehren.