Obwohl die Schweiz den Kampf gegen Menschenhandel verstärkt, will sie Äthiopierin ausweisen
Kein Asyl für junge Sklavin

Die Schweiz verstärkt den Kampf gegen Menschenhandel. Dennoch gewährt sie einem mutmasslichen Opfer kein Asyl, sondern will die junge Frau nach Frankreich ausschaffen. Jetzt ist sie untergetaucht.
Publiziert: 08.10.2019 um 23:01 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2019 um 16:19 Uhr
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Ein Leben auf der Flucht: Wie dieser jungen Frau auf dem Symbolbild erging es einer jungen Äthiopierin, die in der Schweiz ein Asylgesuch stellte.
Foto: Keystone
Lea Hartmann und Nico Menzato

Versklavt, misshandelt, auf der Flucht vor Peinigern und Behörden: Es ist eine tragische Geschichte, die die junge Äthiopierin Zenash* in die Schweiz führt. Hier ist das Teenager-Mädchen vor wenigen Tagen untergetaucht. Weil sie nach Frankreich ausgeschafft werden soll. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat ihr Asylgesuch abgelehnt.

Für die Fachstelle Frauenhandel (FIZ) ein Skandal: «Zenash ist vermutlich minderjährig und ein Opfer von Menschenhandel. Sie lebte als Sklavin bei einer Familie und ist hochgradig selbstmordgefährdet. Die Schweiz muss ihre Verantwortung wahrnehmen und sie schützen», sagt Geschäftsführerin Lelia Hunziker (46) zu BLICK.

Flucht vor Beschneidung und Zwangsehe

Zenash ist gemäss eigenen Angaben in Äthiopien bei Adoptiveltern aufgewachsen. Diese wollten das Mädchen angeblich beschneiden und mit einem alten Mann zwangsverheiraten, der bereits drei Ehefrauen hat. 

Als das Mädchen dies erfährt, gibt es für sie nur einen Ausweg: die Flucht. Sie gelangt schliesslich zu einer reichen Frau und deren Sohn in Saudi-Arabien. Was sie dort eigenen Angaben zufolge erlebt, ist grausam: Dem Mädchen wird der Pass weggenommen, sie wird als Arbeitskraft ausgebeutet und sexuell belästigt.

Im Januar dieses Jahres reist die Familie samt «Haussklavinnen» für Ferien nach Genf. Während eines Einkaufs eröffnet sich endlich die Chance: Zenash flieht erneut. Sie spricht auf der Strasse eine muslimische Frau an; diese gewährt ihr ein paar Tage Unterschlupf.

Schengen-Visum als Stolperstein

Danach stellt sie in der Schweiz ein Asylgesuch – das abgeschmettert wird. Zum Verhängnis wird der Äthiopierin ausgerechnet das Schengen-Visum, das ihre «Besitzerin» beantragt hatte. Weil die Schweiz das Visum verweigerte, hatte diese es in Frankreich versucht. Mit Erfolg. Und dank französischem Schengen-Visum steht den «Ferien» in Genf nichts mehr im Weg.

Nach Dublin-Abkommen ist deshalb Frankreich für das Asylgesuch von Zenash zuständig – und nicht die Schweiz. Das Nachbarland hat der Überstellung auch bereits zugestimmt.

Doch die zierliche junge Frau kämpft. Mit Unterstützung der FIZ wehrt sie sich vor dem Bundesverwaltungsgericht gegen das Verdikt. Ihre Argumente: Sie sei Opfer von Menschenhandel und bedürfe besonderen Schutzes. Sie sei psychisch stark angeschlagen, mehrfach zusammengebrochen und selbstmordgefährdet. Die FIZ kritisiert zudem, dass sie in eine französische Stadt «mit desolaten Asylstrukturen ausgeschafft» werden soll.

Kein Strafverfahren eröffnet

Die Richter sehen dies anders – und weisen die Beschwerde diesen Sommer ab. Die abschliessende Beurteilung, ob jemand wirklich Opfer von Menschenhandel geworden sei, falle nicht in die Kompetenz des SEM, so die Richter. Sie verweisen zudem auf die Genfer Behörden, die kein Strafverfahren einleiteten, weil der hauptsächliche Tatort nicht in der Schweiz liege. 

Auch habe die Geflohene in den Befragungen angegeben, dass es ihr «gut» gehe. Arztberichte, aus denen das Gegenteil hervorgehen würde, seien nicht in den Akten. Die Richter verteidigen auch Frankreich als Asylland: Es gebe keine Anhaltspunkte, dass die junge Frau die benötigte medizinische und psychiatrische Behandlung nicht erhalte.

«Die Schweiz muss Verantwortung übernehmen»

Eine Argumentation, die aus Sicht der FIZ zu kurz greift. «Es kann nicht sein, dass die junge Frau in ein Land ausgeschafft werden soll, in dem sie noch nie war und das ihre Peiniger ausgesucht haben. Ausgebeutet wurde sie immerhin auch in der Schweiz, nicht in Frankreich», sagt Hunziker.

«Die Schweiz muss Verantwortung übernehmen und von ihrem Recht auf Selbsteintritt auf das Asylgesuch Gebrauch machen», fordert sie. Dieses sieht vor, dass ein Staat ein Gesuch prüfen kann, auch wenn laut Dublin-Verordnung ein anderer Staat zuständig wäre. Zudem fordern nicht nur Fachstellen, sondern auch der Europarat schon lange, dass die Schweiz Personen besser schützt, die im Ausland Opfer von Menschenhandel geworden sind.

Auf der Flucht – einmal mehr

Zenash nützen diese Diskussionen nichts mehr. Die Verzweiflung der jungen Frau ist gross. «Ich gehe nicht nach Frankreich. Sie können dann meine Leiche in Empfang nehmen», soll sie laut FIZ-Leiterin Hunziker gesagt haben.

Seither hat sie nichts mehr von der Äthiopierin gehört. In der Nacht auf letzten Donnerstag, kurz bevor die Ausschaffung hätte vollzogen werden sollen, verschwindet Zenash. Sie befindet sich auf der Flucht. Einmal mehr.

* Name geändert

Rüffel für die Schweiz

Der Kampf gegen den Menschenhandel: Zumindest auf dem Papier ist er eine der Prioritäten der Schweizer Strafverfolgungsbehörden. Vor sieben Jahren hat die Schweiz die Konvention des Europarats gegen Menschenhandel ratifiziert. Darin verpflichtet sie sich, Massnahmen zu treffen, um moderne Sklaverei zu verhindern und zu verfolgen. 

Ein Expertengremium überprüft, ob die Unterzeichner-Staaten auf die Worte auch Taten folgen lassen. Heute wird der neuste Bericht zur Situation in der Schweiz präsentiert.

Das letzte Fazit des Europarats 2015 fiel ernüchternd aus. Gerade im Kampf gegen den Kinderhandel und die Ausbeutung im Job gibt es aus Sicht des Gremiums noch grossen Aufholbedarf. Auch der Schutz von Opfern im Asylbereich – sie gelten ebenfalls als besonders gefährdet – ist laut Europarat hierzulande ungenügend.

So hilft das Opferschutzgesetz beispielsweise nur Personen, die in der Schweiz Opfer von Menschenhandel geworden sind. Wer wie Zenash im Ausland ausgebeutet wurde, kann nicht auf staatliche Hilfe zählen. Hier springen derzeit Hilfsorganisationen und Kirchen ein. 

Der Bundesrat hat Besserung gelobt – und einen Aktionsplan präsentiert. Er umfasst 28 Massnahmen, die bis 2020 umgesetzt sein sollen. Eine davon: ein Konzept, wie man Opfer besser schützen kann, wenn die Straftat im Ausland verübt worden ist. Bis 2018 hätte die Sozialdirektoren-Konferenz (SODK) ein solches vorlegen sollen. Bis jetzt liegt es allerdings noch nicht auf dem Tisch.

Der Kampf gegen den Menschenhandel: Zumindest auf dem Papier ist er eine der Prioritäten der Schweizer Strafverfolgungsbehörden. Vor sieben Jahren hat die Schweiz die Konvention des Europarats gegen Menschenhandel ratifiziert. Darin verpflichtet sie sich, Massnahmen zu treffen, um moderne Sklaverei zu verhindern und zu verfolgen. 

Ein Expertengremium überprüft, ob die Unterzeichner-Staaten auf die Worte auch Taten folgen lassen. Heute wird der neuste Bericht zur Situation in der Schweiz präsentiert.

Das letzte Fazit des Europarats 2015 fiel ernüchternd aus. Gerade im Kampf gegen den Kinderhandel und die Ausbeutung im Job gibt es aus Sicht des Gremiums noch grossen Aufholbedarf. Auch der Schutz von Opfern im Asylbereich – sie gelten ebenfalls als besonders gefährdet – ist laut Europarat hierzulande ungenügend.

So hilft das Opferschutzgesetz beispielsweise nur Personen, die in der Schweiz Opfer von Menschenhandel geworden sind. Wer wie Zenash im Ausland ausgebeutet wurde, kann nicht auf staatliche Hilfe zählen. Hier springen derzeit Hilfsorganisationen und Kirchen ein. 

Der Bundesrat hat Besserung gelobt – und einen Aktionsplan präsentiert. Er umfasst 28 Massnahmen, die bis 2020 umgesetzt sein sollen. Eine davon: ein Konzept, wie man Opfer besser schützen kann, wenn die Straftat im Ausland verübt worden ist. Bis 2018 hätte die Sozialdirektoren-Konferenz (SODK) ein solches vorlegen sollen. Bis jetzt liegt es allerdings noch nicht auf dem Tisch.

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