Herr Professor Matthias Mahlmann, die SVP-Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter», auch Selbstbestimmungsinitiative genannt, will der Schweiz das letzte Wort in Rechtsfragen geben. Warum formieren Sie sich genau dagegen?
Matthias Mahlmann: Die Initiative betrifft Grundfragen der Gestaltung des politischen Gemeinwesens. Moderne Staaten sind in die internationale Gemeinschaft in vieler Hinsicht eingebunden. Das gilt in politischer nicht weniger als in wirtschaftlicher, kultureller oder wissenschaftlicher Hinsicht. Gerade für die Schweiz sind diese internationalen Beziehungen von besonderer Bedeutung. Zentral für ihre Gestaltung ist das Völkerrecht. Die Bestimmung des Verhältnisses von Landesrecht und vor allem des Verhältnisses der Bundesverfassung zum Völkerrecht hat darum besonderes politisches Gewicht.
Inwiefern?
Die Initiative richtet sich insbesondere gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Man kann und muss die Anwendung ihrer Umsetzung kritisch begleiten, und viele der Unterzeichnenden tun dies laufend. Aber der Schutz von Menschenrechten ist eine Errungenschaft der europäischen Rechtskultur, die es zu verteidigen gilt! Das zeigen die Tragödien, Bürgerkriege, politischen Krisenherde und Diktaturen in anderen Regionen der Welt sehr deutlich. Aber auch andere herausragend wichtige Fragen werden berührt, etwa das Wirtschafts- oder Umweltvölkerrecht.
Hans-Ueli Vogt behauptet aber, seine Initiative liefere klare Lösungen für diese Probleme.
Wir versuchen zu zeigen, dass dies keineswegs der Fall ist. Sie wirft mehr Fragen auf, als sie löst. Sie schafft keine Rechtssicherheit, sie vertieft die Rechtsunsicherheit. Um dies deutlich zu machen, muss man sich auf die Auseinandersetzung mit schwierigen Rechtsfragen einlassen. Unterbleibt dies, könnte die Bundesverfassung in einer Weise geändert werden, die weitreichende und womöglich ungewollte Konsequenzen hätte.
Die Initiative liefert also einfache und darum falsche Antworten auf komplexe Fragen?
Die Schwierigkeit der aufgeworfenen Rechtsfragen zu betonen, ist wirklich sehr wichtig. Die Auseinandersetzung mit Grundfragen wie: Welchen Platz hat die Schweiz in der internationalen Gemeinschaft? Wie sollen wichtige Inhalte unseres Rechts aussehen? Und: Wie soll es weitergehen mit der europäischen Rechtskultur? passt in keine Twitter-Nachricht! Sie muss sorgfältig und genau geführt werden. Darum ist unser Ziel, einen Beitrag zu dieser notwendigen Debatte zu leisten.
Ist der Text der Initiative denn schlecht gemacht, das Anliegen aber rechtlich machbar?
Nun, es ist kein Zufall, dass in der Bundesverfassung die Regelung des Verhältnisses von Bundesrecht und Landesrecht im Einzelnen bewusst offen gelassen wurde. Das erlaubt flexible Lösungen, die den sachlichen Problemen tatsächlich gerecht werden. Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht ist rechtlich nicht leicht vernünftig in den Griff zu bekommen. Diese Erfahrung haben viele Staaten gemacht. Es geht um eine Vielzahl von Themen – von der Terrorismusbekämpfung bis zur Organisation des Postwesens. Völkerrecht ist auch kein fremdes Recht, sondern wird von der Schweiz gleichberechtigt mit anderen Staaten mitgeprägt.
Was sind die Kernprobleme?
Die Initiative beansprucht, das Verhältnis von Bundesverfassung und Völkerrecht klar zu regeln. Die Bundesverfassung soll Vorrang haben. Gleichzeitig wird aber ein Teil des Völkerrechts als massgebend für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden erklärt, wenn es dem Referendum unterstand. Das bedeutet, dass dieses Völkerrecht auch angewandt werden muss, wenn es der Bundesverfassung widerspricht. Dabei handelt es sich nicht nur um besonders wichtige völkerrechtliche Abkommen, sondern auch um solche, die Nebenfragen betreffen, etwa den Schiffsverkehr. Andere Abkommen, beispielsweise Grundpfeiler des internationalen Menschenrechtsschutzes, werden nicht erfasst. Das erzeugt schwer aufzulösende Wertungswidersprüche.
Für Nicht-Juristen ist es da fast unmöglich, den Überblick zu behalten. Das Volk könnte damit überfordert sein.
Sie haben Recht, das ist ein schwerer Brocken. Ich glaube aber, die Kernprobleme können deutlich gemacht werden. Es geht ja nicht um Geheimwissenschaft! Überraschend ist etwa auch Folgendes: Die Initiative richtet sich gegen Europarecht, etwa das Freizügigkeitsabkommen. Dieses Abkommen unterstand dem Referendum, es ist also nach der Initiative auch dann anzuwenden, wenn es der Bundesverfassung widerspricht. Die Initiative sieht vor, dass völkerrechtliche Abkommen bei Widerspruch zur Bundesverfassung angepasst und wenn das nicht möglich ist, gekündigt werden sollen. Entsprechende Verhandlungen sind eine Sache von Jahren. Die Initiative stärkt mithin die Geltungskraft des Freizügigkeitsabkommens über Jahre hinweg entgegen ihren Absichten, die Rechtswirkungen dieses Abkommens gerade zu beschränken.
Der Initiativtext bewirkt also sogar das Gegenteil seines Vorhabens?
Bei genauer Prüfung wird klar, dass dies eine Folge sein könnte, jedenfalls für eine lange Zeit. Hinzu kommt noch der Aspekt der Europäischen Menschenrechtskonvention, dort ist die Lage noch komplizierter. Sie unterstand nicht dem Referendum, wohl aber Änderungen ihres Texts. Es gibt deshalb ernst zu nehmende Argumente, dass die Initiative auch hier die Geltungskraft der Europäischen Menschenrechtskonvention über lange Zeit stärkt, die sie gerade begrenzen wollte.
Vor welchem Dilemma stehen Sie denn konkret?
Dazu noch ein Beispiel: Die Regelung der Kündigung von völkerrechtlichen Abkommen wirft viele Fragen auf. Wann liegt ein ausreichender Widerspruch von Völkerrecht und Bundesverfassung vor? Bei einem Urteil? Das wäre wenig sinnvoll, weil sich die Rechtssprechung ändern kann und man nicht wegen eines Urteils ein Abkommen jahrelang neu verhandelt und dann kündigt, wenn dieses Urteil in wenigen Jahren vielleicht schon nicht mehr massgeblich ist. Wo ist dann aber die Grenze zu ziehen? Und: Wer entscheidet das? Die Initiative will dem Bundesgericht klare Vorgaben machen. Im Ergebnis erreicht sie aber das Gegenteil: Das Bundesgericht wird mit der Aufgabe belastet, neue Rechtsunsicherheiten klären zu müssen, die nicht kleiner, sondern grösser sind als bisher.
Was bedeutet die Initiative für das Verhältnis der Schweiz zum Ausland?
Sie kann uns ins internationale Abseits manövrieren. Das gilt für viele Bereiche, auch für das Beispiel des internationalen Menschenrechtsschutzes. Ist wirklich gewollt, uns in eine Reihe mit Weissrussland und Nordkorea zu stellen? Gerade die Europäische Menschenrechtskonvention schützt nicht nur andere, sondern uns selbst, wenn wir im Ausland beruflich tätig sind oder uns sonst ausserhalb der Grenzen aufhalten. In einem Europa von politischen Systemen, die Grundrechte nicht achten, möchte ich mich nicht bewegen. Auch Verfassungen liefern hier Schutz. Der internationale Menschenrechtsschutz ergänzt diese nationalen Schutzsysteme aber in wichtigen Hinsichten. Diese Errungenschaften sollten nicht verspielt werden.
Aber wie gefährdet die Initiative konkret die politische Stabilität?
Wir leben in einer Zeit grosser Krisen. In der Ukraine, in Syrien wird Krieg geführt, auch unter direkter und indirekter Beteiligung der Supermächte. Die Flüchtlingskrise stellt grosse Herausforderungen. Neue Formen des Terrorismus bedrohen uns alle. Die internationale Wirtschaftskrise ist nicht ausgestanden. In diesen Zeiten ist eine stabile internationale Ordnung, die durch Recht gesichert wird, von entscheidender Bedeutung. Gerade Grundrechte sind dabei unverzichtbar: Wo Menschen in Sicherheit und ohne Rechtsverletzungen leben können, sind politische Ordnungen auch stabil.Diese politische Stabilität gefährdet die Initiative ohne zwingenden Grund.