SonntagsBlick: Herr Bardill, was ist los im Kanton Graubünden, dass Sie für den Regierungsrat kandidieren?
Linard Bardill: Es braucht eine Erzählung, um verstehen zu können, was passiert ist. Der Ritter Georg besiegte den Drachen, um die Jungfrau zu befreien. Der Bauunternehmer Adam Quadroni aus Ramosch ist der Ritter. Der Drache ist das Bündner Baukartell. Und die Jungfrau ist die Wahrheit. Die Wahrheit steckt hinter der Mauer des Schweigens. Quadroni schlug ein Loch in diese Mauer. Die Wahrheit dahinter ist, dass die Menschen nicht frei sind, sondern gefangen.
Gefangen?
Graubünden ist eine Stammesgesellschaft mit Abhängigkeiten, Riten, Hierarchien und Tabus, über die man nicht spricht. Auf Sizilien würde man von Omertà sprechen.
Und was wird verschwiegen?
Machenschaften, Geschäfte. Wer das Sagen hat im Dorf. Eine dieser Machenschaften zeigte der Bauskandal: Man «bschiisst». Quadroni fand, man betrüge zu viel.
Die Folgen für ihn sind schlimm.
Der Stamm will nicht die Machenschaften ausmerzen, sondern denjenigen, der davon berichtet. Der letzte Akt ist die persönliche Vernichtung dieses Menschen.
Wie meinen Sie das?
Die Polizei verhaftet Quadroni unter einer Begründung, die mit dem Bauskandal vordergründig nichts zu tun hat. Er wird aber nicht mitten in der Nacht abgeführt, sondern morgens um zehn. Damit die Schulkinder des Dorfes sehen, wie er von schwer bewaffneten Polizisten zu Boden gedrückt, gefesselt und abgeführt wird. Das ist aus meiner Sicht ein staatsterroristischer Akt.
Moment, Sie kandidieren für den Regierungsrat und treten auch gegen Walter Schlegel an, jenen Politiker, der als Polizeikommandant den Einsatz zu verantworten hat. Er ist Ihr Konkurrent.
Wie verhaftet man so einen wie Quadroni? Alle sollen wissen: Das passiert mit dir, wenn du die Stammesregeln nicht befolgst. Der Polizeikommandant musste dazu sein Okay geben, ohne die Hintergründe genau zu kennen.
Dann können Sie es ihm schwerlich vorwerfen.
Ich drehe ihm keinen Strick daraus. Aber als Quadroni in seiner Verzweiflung an die Presse gelangte und die ganze Schweiz aufschrie, da bekam der Kommandant ein Problem. Er leitet eine Untersuchung ein, lässt ihr aber Zeit bis nach den Wahlen. Das kreide ich ihm an. Die Verhaftung geschah vor 14 Monaten! Ich will Offenheit in der Regierung, kein Gemauschel.
Was wollen Sie anders machen, sollten Sie wider Erwarten gewählt werden?
Meine Chancen stehen gut. Mein Bauch sagt mir, dass ich mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent gewählt werde. Ich verdiene gut als Liedermacher, geniesse meine Freiheit. Das gebe ich auf, aus Liebe zu meinem Kanton. Mir geht es nicht um die Bewirtschaftung der Empörung oder der Schadenfreude, sondern um die Erkenntnis und das Verstehen.
Was würden Sie in die Kantonsregierung einbringen?
Einen neuen Geist, Kreativität, Offenheit und Feuer.
Das sind doch nur Schlagworte!
Nein, Sie sehen ja, wo unser Kanton im Moment steht. Neue Untersuchungen der Wettbewerbskommission stehen an. Wir müssen etwas Neues aufbauen.
Welches Departement möchten Sie?
Am einfachsten wäre sicher Kultur und Schule. Ich unterrichte seit vielen Jahren Kinder und singe für sie. Ich kenne mich als Kulturschaffender auch beim ganzen Kulturförderungsdesaster bestens aus. Es wird nur nach dem Giesskannenprinzip Geld verteilt, ohne jede Vision.
Sicherheitsdirektor und Verantwortlicher für das WEF – würden Sie sich das auch zutrauen?
Das würde ich gerne machen. Zuerst würde ich die Polizisten in Deeskalation üben. Damit sie mit einer Situation wie mit der Verhaftung von Adam Quadroni besser umgehen.
Sehen Sie sich als Linken?
Dieses Links-rechts-Schema ist überholt. Linke sind konservativ, Rechte nicht mehr liberal. Auch in der Mitte bin ich nicht. Ich bin in Bewegung.
Als junger Mann wollten Sie aus dem Staat Gurkensalat machen.
Ja, damals war ich Anarchist.
Dann kämpften Sie 1992 gegen den EWR.
Dazu stehe ich heute noch. Der Föderalismus und die Volkssouveränität sind entscheidend. Die sah ich damals und sehe ich heute bei einem Beitritt gefährdet.
Warum?
Der moderne Bundesstaat von 1848 basiert auf zwei einfachen Ideen, hinter denen ich stehe: Jeder ist vor dem Gesetz gleich und das Volk hat das Sagen.
Das klingt sehr patriotisch.
Es gibt eine Liedzeile von mir: «Es ist nichts verloren, solange man es lieben mag.» Das ist mein Begriff von der Schweiz. l
Persönlich
Linard Bardill wurde 1956 geboren und wuchs in Cazis GR auf. Nach der Matur studierte er an der Universität Zürich Evangelische Theologie. Sein Werk umfasst Lieder und Romane – sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. 1990 wurde Bardill mit dem Salzburger Stier ausgezeichnet. Er ist verheiratet, Vater von fünf Kindern und wohnt in Scharans GR.