Herr Leuenberger, wie stiessen Sie auf den grössten Skandal der Schweizer Nachkriegszeit?
Moritz Leuenberger: Es heisst jetzt oft, wir seien zufällig auf die Fichen gestossen. Das stimmt nicht. Ich war zuvor in der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats, die auch die Aufsicht über die Bundesanwaltschaft hat. Ich wusste deshalb schon vor der Kopp-Untersuchung davon.
Weshalb hat keiner Alarm geschlagen?
Wir wussten nur, dass Fichen existieren. Aber nicht, über wen, und nicht, was drin stand. Erst die PUK hatte die Kompetenz, alles einzusehen.
Dazu wurden Sie alle damals in den Archivraum einbestellt, wo die Akten gelagert waren. Was sind Ihre Erinnerungen an jenen Moment?
Wir sassen alle da und hörten dem Chef der Bundespolizei zu. Währenddessen stand einer auf und ging zu den Schränken, öffnete eine Schublade und schrie auf. Es war Gilles Petitpierre. Er hatte die Fiche seines Vaters gefunden, also von Max Petitpierre, dem ehemaligen Aussenminister der Schweiz. Daraufhin eilten alle um mich herum an die Schubladen und schauten bei ihren Familien und Freunden nach und waren hell entsetzt. Ich blieb sitzen.
Warum sprangen Sie nicht auch auf?
Es wäre unanständig gewesen. Immerhin hat der Chef der Bundespolizei einen Vortrag gehalten.
Am 22. November 1989 löste eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) mit ihrem Bericht ein politisches Erdbeben aus. Die PUK hatte bei der Bundespolizei 900'000 Fichen entdeckt. Dies obwohl dafür keine rechtlichen Grundlagen bestanden. Die Empörung in der Bevölkerung angesichts der Bespitzelung war gross: So demonstrierten am 3. März 1990 in Bern rund 30'000 aufgebrachte Menschen gegen den «Schnüffelstaat». Die PUK war ursprünglich wegen des Falls Kopp eingesetzt worden. Sie hatte den Auftrag, die Amtsführung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement und insbesondere in der Bundesanwaltschaft zu überprüfen. So stiess sie auf die Fichen. Von diesem Skandal handelt der neue Schweizer Film «Moskau einfach!». Er eröffnet am 22. Januar die Solothurner Filmtage.
Am 22. November 1989 löste eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) mit ihrem Bericht ein politisches Erdbeben aus. Die PUK hatte bei der Bundespolizei 900'000 Fichen entdeckt. Dies obwohl dafür keine rechtlichen Grundlagen bestanden. Die Empörung in der Bevölkerung angesichts der Bespitzelung war gross: So demonstrierten am 3. März 1990 in Bern rund 30'000 aufgebrachte Menschen gegen den «Schnüffelstaat». Die PUK war ursprünglich wegen des Falls Kopp eingesetzt worden. Sie hatte den Auftrag, die Amtsführung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement und insbesondere in der Bundesanwaltschaft zu überprüfen. So stiess sie auf die Fichen. Von diesem Skandal handelt der neue Schweizer Film «Moskau einfach!». Er eröffnet am 22. Januar die Solothurner Filmtage.
Gab es eine Akte über Sie?
Ja, aber ich habe meine Fiche nie öffentlich gemacht. Ich wollte nicht, den Eindruck erwecken, ich sei aus Betroffenheit den Fichen nachgegangen und sei jetzt auf einem persönlichen Rachefeldzug.
Was sahen Sie dort?
Ich habe erfahren, dass ich wegen eines Eintrags eine Stelle nicht bekommen hatte. Ich war damals Präsident der SP Zürich. Von einer etablierten Partei also. Das Bekenntnis zur SP wurde als staatsgefährlich angesehen. Aber ich will mich nicht beklagen. Es gab Akten, die mich viel mehr umtrieben.
Welche?
Ich habe in den Fichen gesehen, dass ein sozialdemokratischer Professor seine Studenten denunziert hatte, nicht wegen einer Rechtswidrigkeit, nur wegen ihrer Diskussionen im Seminar. Und eine freisinnige Mutter hat ihre eigene Tochter als vermutliche Terroristin gemeldet. Nur weil sie in die sozialdemokratische Partei eingetreten war. Ich kannte die Tochter. Das stellte mich vor eine schwierige ethische Frage: Sollte ich es ihr sagen?
Und, sagten Sie es ihr?
Nein, das wäre falsch gewesen. In Henrik Ibsens Klassiker «Die Wildente» gibt es den Wahrheitsfanatiker. Dieser drängt allen die Wahrheit auf und stürzt so eine ganze Familie ins Elend. Am Ende nimmt sich deshalb sogar jemand das Leben.
Ihr Kollege Petitpierre war Freisinniger. Von links bis rechts war also niemand sicher vor dem Staatsschutz. Was hat das mit den Mitgliedern der Kommission gemacht?
Wir waren alle schockiert. Einige hatten Angst, dass die Bundespolizei unsere Sitzungen abhörte. Deshalb wechselten wir immer den Ort, an dem wir uns trafen. Das schweisste uns zusammen. Den Schlussbericht verabschiedeten wir einstimmig und ohne Enthaltung. Das gäbe es heute nicht mehr. Die Geschlossenheit hat dem Bericht eine starke Wirkung gegeben.
Inwiefern hat das auch Ihrer Karriere gutgetan?
Die Arbeit in der PUK war ausschlaggebend dafür, dass ich in Zürich Regierungsrat und später Bundesrat wurde. Das will ich gar nicht wegreden. Sozialdemokraten standen davor immer unter dem Verdacht, nicht konsensual zu sein.
Heute packt den Nachrichtendienst des Bundes wieder die Sammelwut. Die SP-Politiker Margret Kiener Nellen und Cédric Wermuth gingen mit ihren Aktennotizen bereits an die Öffentlichkeit. Was sagen Sie dazu?
Da ist offenbar die Bundespolizei im Kalten Krieg erstarrt. Es gibt aber einen Unterschied zu damals: Die beiden konnten ihre Fichen einsehen. Das Parlament hat heute das Recht, die Unterlagen einzufordern. Einträge können korrigiert und entfernt werden. Das hat die PUK erreicht.
Heute bleibt ein Aufschrei im grossen Stil aus. Hat die Gesellschaft nichts aus dem Fichenskandal gelernt?
Verdeckte Ermittlungen braucht es. Es fragt sich nur, gegen wen. Heute haben wir andere Bedrohungen als damals. Es gibt die Sorge um Leib und Leben. Sei es durch den IS oder kranke Leute, die Zugang zu Waffen haben. Die Bevölkerung verlangt von der Polizei, dass sie solche Gefahren erkennt. Nach jedem Anschlag heisst es: Das hätte man doch früher merken können. Dafür braucht die Polizei auch Daten, die sie erhebt.
Das Sammeln ufert doch aber aus: Über Kiener Nellen gibt es beim Nachrichtendienst 70 Einträge.
Ich kenne die Details nicht. Aber das Datensammeln muss demokratisch kontrolliert sein. Das ist der Fall. Dies ist unser wichtigstes Korrektiv gegen Missbräuche.
Seit Sie 2010 als Bundesrat zurücktraten, hat sich einiges in der Parteienlandschaft getan. Die Sozialdemokraten in Europa serbeln vor sich hin. Schmerzt Sie das?
Ja, sicher. Aber die Sozialdemokratie als politische Bewegung ist nicht einfach beerdigt. In England schnitt die Labour-Party desolat ab. Sie hat auch grobe Fehler begangen. Aber in Finnland ist eine 34-jährige Sozialdemokratin Ministerpräsidentin. In vielen Ländern ist es eine Frage der Überalterung der Parteispitze. Aber ich will mich jetzt gar nicht zu fest einmischen.
Warum? Wo ist das Problem?
Ich gehöre nun zu den Älteren und muss nicht den Jüngeren sagen, was sie zu tun haben. Ich will kein sturer alter Bock werden, der meint, er müsse noch immer alles kommentieren. Früher fand ich es immer grauenvoll, wenn Otto Stich das gemacht hat.
Mich interessiert aber, was Sie zur Kandidatur von Mattea Meyer und Cédric Wermuth fürs SP-Präsidium sagen.
Ich kann nur sagen, dass ich es gut finde, dass die beiden bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Würde ich aber hinzufügen, man müsse schauen, wie die Romandie vertreten sei, würde zugespitzt: «Leuenberger schiesst gegen Meyer und Wermuth.» Das will ich nicht.
In Ihrer Show Bernhard Matinée kommentieren Sie auch das politische Geschehen. In einer satirisch-kabarettistischen Weise. Hat Sie der Bundesratsjob zum Entertainer gemacht?
Politik und Theater sind enge Verwandte. Es geht darum, ein Anliegen verständlich zu vermitteln. Theater und Politik nutzen dazu Symbole und Dramatik. Sie spitzen zu und wollen Gefühle wecken und verführen. Die Populisten spielen auch Theater.
Wo ist die Grenze zur nicht populistischen Politik?
Wenn es manipulativ wird. Wenn man jemanden irreleitet. Aber dass man mit Gefühlen spielt, ist Politik, und die ist auch Theater.
Moritz Leuenberger (73) war 1989 Präsident der Parlamentarischen Untersuchungskommission, die den Fichenskandal aufdeckte. Danach ging seine Karriere steil bergauf: 1991 wurde das SP-Mitglied in den Zürcher Regierungsrat gewählt, 1995 in den Bundesrat. 2010 trat er zurück. Leuenberger war während seiner Amtszeit bekannt für seine selbstironischen Auftritte. Diese pflegt er weiterhin auf der Bühne des Zürcher Bernhard Theaters. Im Rahmen der Bernhard Matinée empfängt er monatlich Gäste aus Politik, Kultur und Kabarett. Leuenberger wohnt in Zürich, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.
Moritz Leuenberger (73) war 1989 Präsident der Parlamentarischen Untersuchungskommission, die den Fichenskandal aufdeckte. Danach ging seine Karriere steil bergauf: 1991 wurde das SP-Mitglied in den Zürcher Regierungsrat gewählt, 1995 in den Bundesrat. 2010 trat er zurück. Leuenberger war während seiner Amtszeit bekannt für seine selbstironischen Auftritte. Diese pflegt er weiterhin auf der Bühne des Zürcher Bernhard Theaters. Im Rahmen der Bernhard Matinée empfängt er monatlich Gäste aus Politik, Kultur und Kabarett. Leuenberger wohnt in Zürich, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.
Vermissen Sie die Mikrofone und die Reichweite, die Sie als Bundesrat hatten?
Nein, denn das ständige Aufpassen, falsch interpretiert zu werden, ist auch eine Last. Im Theater kann ich mir viel mehr Freiheiten nehmen. Die totale Präsenz in den Medien damals war ein anstrengender Beruf.
Den Sie auf ganz eigene Weise ausgeübt haben. 2003 rochen Sie medienwirksam an einem Autoauspuff. Das fanden die Leute witzig!
Und andere schalten mich dafür. Ich trauere dieser Zeit nicht nach.
Aber Ihre Auftritte sind legendär.
Ja, aber vor allem wegen meiner Rolle als Regierungsmitglied. Wenn man nur schon einen halbwegs lustigen Witz machte, lachten alle. Nicht weil man per se witzig gewesen wäre. Das hat mit dem autoritären Gefälle zu tun. Mir war das schon während meiner Amtszeit bewusst. Ich habe mich darum manchmal über meine eigene Rolle lustig gemacht.
2005 stand die letzte Sprengung im Neat-Basistunnel an. Nachdem Sie den Sprengknopf gedrückt hatten, sagten Sie im Witz: «Es ist selten, dass ich so schnell etwas bewirke.» Wie erklären Sie sich, dass sich die Leute damals darüber ärgerten?
Die Menschen projizieren Ideale auf einen Amtsträger. Sie erwarten, dass er sich würdig verhält. Ist man Bundesrat, kommt Selbstironie schlecht an. Dann kommt sofort der Vorwurf, man würde sein Amt nicht ernst nehmen.
Im Interview mit dem SonntagsBlick sagten Sie kurz vor Ihrem Amtsende, dass die Gefahr bestehe, in ein Loch zu fallen. Wie war es für Sie?
Ich bin in ein wahnsinniges Loch gefallen. Auf der Strasse sagten Leute: «Willkommen bei uns Rentnern. Jetzt können Sie endlich lesen und reisen.» Das hat mich fertiggemacht. Ich wollte doch gar nicht lesen und reisen. Oder sie sagten zu meiner Frau: «Jetzt haben Sie ihn für sich.» Sie wollte mich aber gar nicht für sich haben.
Danach hörte man einige Jahre lang wenig von Ihnen. Bis Sie 2015 mit der Bernhard Matinée anfingen.
Nach dem Rücktritt sagte man mir, jetzt kannst du machen, was dir Spass macht. Aber ich musste zuerst herausfinden, was das ist. Wenn man direkt aus dem Hamsterrad springt, weiss man das noch nicht. Ich habe Zeit gebraucht.