Morgen Montag versammeln sich die eidgenössischen Räte zur Sondersession in einer Berner Messehalle – und falls die Ereignisse ihren vernunftgemässen Gang nehmen und die Abgeordneten die richtigen Lehren aus den Ereignissen der vergangenen Wochen ziehen, dann werden sie das Ende des bisherigen sozialen und wirtschaftlichen Systems erklären und die Revolution ausrufen.
Wir glaubten, in einer Demokratie zu leben. Jetzt verstehen wir, dass es sich um eine Demokratie unter Vorbehalt handelt.
Wir meinten, unsere Ökonomie funktioniere nach den Prinzipien des freien Marktes. Nun müssen wir endgültig einsehen: Auch diese Marktwirtschaft steht unter einem Vorbehalt.
Und wir alle, die davon ausgingen, dass die Grundsätze des humanistischen Menschenbildes unverhandelbar seien und jeder Mensch über eine unantastbare Würde verfüge, so, wie es der Artikel 7 unserer Bundesverfassung garantiert, der muss sich nun eingestehen: Auch diese menschliche Würde stand die ganze Zeit unter einem Vorbehalt.
Das bisherige System gefährdet die Zukunft
Man kann und muss dies beklagen. Aber jede Enttäuschung enthält gleichzeitig die Einsicht in die wirklichen Verhältnisse. Und erst diese Einsicht schafft die Voraussetzung für eine Veränderung. Und verändern müssen wir viel. Denn diese Systeme unter Vorbehalt gefährden unsere Zukunft als Bürger einer freien Gesellschaft, ja, sogar unsere Zukunft als Menschheit.
In der Schweiz ist die Demokratie seit nunmehr sechs Wochen, seit dem 15. März 2020, ausser Kraft gesetzt. An jenem Tag beschlossen ein paar Frauen und Männer, das nationale Parlament zu beurlauben und die laufende Frühlingssession von einem Moment auf den anderen abzubrechen. Es gab darüber keine Abstimmung, nicht in der grossen, nicht in der kleinen Kammer. Es waren die Büros des National- und des Ständerates, die diesen in der Geschichte des Bundesstaates einmaligen Entscheid trafen. Es ist unklar, wie sie dazu kamen, sich selbst und das legislative Verfassungsorgan kurzerhand zu amputieren. Es gab dazu keine Notwendigkeit. Die Möglichkeiten, den Ratsbetrieb trotz Pandemie aufrechtzuerhalten, waren zahlreich. Man hätte die Fraktionen nach dem Pair-Prinzip proportional verkleinern und gewisse Beratungen und Kommissionssitzungen online durchführen können. Jedenfalls unternahm keines unserer Nachbarländer, denen wir uns als Schweizer durch die direkte Demokratie so oft überlegen fühlen, auch nur Vergleichbares. Sogar das viel geschmähte EU-Parlament tagte, und die Abgeordneten in Brüssel wagten etwas, das die eidgenössischen Abgeordneten für sich selbst ausgeschlossen hatten und wozu sie von den Bürgern doch eigentlich gewählt wurden: Sie diskutierten die Anträge ihrer Regierung und stimmten sogar darüber ab.
Das Schweizer Parlament schuf sich freiwillig selbst ab
In der Schweiz entschied man sich für einen anderen Weg. Hier überliess das Parlament das Wohl und Wehe des Landes der Exekutive. Nun bestimmte ein Gremium von sieben über die Zukunft von acht Millionen. Und schon bald reichten dem Bundesrat die Befugnisse, die ihm die «ausserordentliche Lage» gemäss Epidemiengesetz verschaffte, nicht mehr. Denn jene Bürgschaften, die die Liquidität der Wirtschaft, vor allem aber die Kreditausfälle der Finanzinstitute sichern, konnten nur nach Artikel 185 der Bundesverfassung erlassen werden. Das ist die verfassungsrechtliche Neutronenwaffe, die frei von irgendwelcher Kontrolle sämtliche Gesetze, Grundrechte und Institutionen ausser Kraft setzt und alle Macht der Regierung überträgt. Diesen Artikel 185 umweht der Ruch der Diktatur, und deshalb ist seine Anwendung zu befristen und auf jene Fälle beschränkt, in denen die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz bedroht ist.
Doch selbst wenn die Schweizer Bevölkerung der ungeteilten Ansicht sein mag, diese Gefahr habe in den letzten Wochen bestanden, so wird es gewiss unterschiedliche Meinungen darüber geben, mit welchen Mitteln dieser Gefahr begegnet werden soll. Aber wie sollen diese Meinungen zum Ausdruck kommen? Wer soll die verschiedenen Interessen formulieren – wenn nicht die gewählten Volksvertreter? Und falls die Massnahmen dringlich waren und keine Zeit für eine parlamentarische Beratung blieb: Warum hat man sie nicht vorgängig diskutiert? Diese Pandemie war voraussehbar. Der Bundesrat selbst hat in seinen beiden Risikoberichten eben eine solche Pandemie zusammen mit der Strommangellage als grösste Gefahr für unser Land bezeichnet. (Apropos: Wie gut ist die Schweiz auf einen Blackout vorbereitet? So schlecht wie auf diese Pandemie? Morgen Montag wäre für das Parlament Gelegenheit, die richtigen Fragen und die nötigen Massnahmen zu treffen.)
In enger Zusammenarbeit mit den Banken
Nach 2008, nach der Rettung der Grossbank UBS, ist es das zweite Mal, dass der Bundesrat an allen rechtsstaatlichen Instanzen vorbei regiert. Die Regierung verschleiert dabei nicht einmal, in welchem Interesse sie handelt und wem sie das Ohr schenkt. So steht auf der entsprechenden Website fast frivol ehrlich: «Das Eidgenössische Finanzdepartement EFD beobachtet die Lage weiterhin genau, in enger Zusammenarbeit mit dem WBF, der FINMA, der SNB und den Banken.»
Hier steht es schwarz auf weiss: Das Wohl des Landes ist synonym mit dem Wohl der Finanzwirtschaft und der Börse und wird mittels Notrecht gegen alle anderen Interessen durchgesetzt.
Man muss die Firmen zwingen, sich abzusichern
Damit sind wir beim zweiten Punkt. Unsere Ökonomie funktioniert nach den Prinzipien der freien Marktwirtschaft – allerdings nur unter dem Vorbehalt, dass dieser freie Markt zuverlässig Wachstum und damit Gewinne produziert. Die unternehmerische Freiheit bedingt das unternehmerische Risiko – warum haben sich die Betriebe also nicht für den Fall einer Pandemie gewappnet? Man hat sie schliesslich kommen sehen. Und die Profite unserer globalisierten Wirtschaft korrelieren stark mit den Risiken einer solchen Pandemie. Es war den Aktiengesellschaften möglich, während Jahren Milliarden aus den Unternehmen abzuziehen und zu den Shareholdern zu verschieben. Jetzt, da man diese Gewinne brauchen würde, um die Wirtschaft durch diese Krise zu bringen, ist kein Geld mehr da? Entweder muss das Parlament die Unternehmen zwingen, sich gegen diese Gefahren zu wappnen, also Versicherungen abzuschliessen oder Rückstellungen zu tätigen, oder im anderen Fall diese Unternehmen vollumfänglich den Schäden aussetzen.
Was wir bereits während der Finanzkrise lernen mussten, bewahrheitet sich ein zweites Mal: Bis heute werden in diesem System Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert. Die Prämisse lautet, um jeden Preis die Gewinne der Kapitalisten zu sichern. Und sie wissen den Bundesrat unter der rechtsbürgerlichen Kontrolle natürlich als Komplizen. Millionen an die Aktionäre ausschütten und sich gleichzeitig die Gehälter der Mitarbeiter von der Allgemeinheit subventionieren lassen? Das ist die legale Praxis im Frühling 2020. Für die Mehrung des Profits muss nun auch die Arbeitslosenversicherung herhalten. Vielleicht mögen sich die Arbeitnehmenden bei der nächsten Lohnabrechnung daran erinnern, dass sie mit ihren Abzügen die Aktionäre subventionieren.
Menschen als Kostenfaktor
Es ist deshalb zwar betrüblich, aber nicht erstaunlich, wenn die Apologeten dieses Systems auch den Menschen lediglich als Kostenfaktor begreifen. Selbst die menschliche Würde steht unter einem Vorbehalt. Tatsächlich reichen ein paar Tage Lockdown, bis sozialdarwinistische und faschistische Ideen in der Öffentlichkeit unwidersprochen diskutiert werden dürfen. Aber in einer Gesellschaft, die sich am Humanismus orientiert, bezieht das menschliche Leben seinen Wert weder aus seiner Produktivität noch aus dem Alter oder den noch zu erwartenden Lebensjahren. Der Würde des Lebens ist voraussetzungslos und durch sich selbst gegeben. In einer humanistischen Gesellschaft wird jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit gesehen. Das staatliche Handeln muss sich am Wohl des Einzelnen messen lassen. In einer humanistischen Gesellschaft hat ein alter Mensch nicht weniger Rechte als ein junger, ein Kranker nicht weniger als ein Gesunder. Es ist erschreckend, wie wenig verankert diese Haltung ist.
Hier zeigt sich eine Erosion des Fundamentes, auf dem eine freiheitlichen Ordnung aufbauen muss. Dieses Fundament ist mit keiner Rechtsordnung durchzusetzen, es bildet überhaupt erst die Voraussetzung für diese Rechtsordnung.
Demokratie ist keine Staffage und Parlament ist keine Plauderstube für profitable Zeiten. Es ist der Ort, an dem unsere legitimen und sehr unterschiedlichen Interessen zur Sprache kommen und verhandelt werden. Es geht dabei mitnichten um die aktuelle Krise. Und es geht auch nicht um eine Beurteilung, wie gut oder wie schlecht der Bundesrat uns durch die letzten sechs Wochen gebracht hat. Das Coronavirus werden wir gewiss überstehen. Es geht vielmehr um die nächsten Herausforderungen. Sie werden um ein Vielfaches grösser sein.
Für die nächste Krise brauchen wir eine Demokratie ohne Vorbehalt
Vor genau einem Jahr erschien der Biodiversitätsbericht der Vereinigten Nationen. Er zeichnete ein apokalyptisches Bild vom Zustand unserer Umwelt. Das erste Quartal dieses Jahres war das zweitwärmste seit Beginn der Messungen.
Wenn wir als Gesellschaft diese Herausforderung bewältigen wollen, brauchen wir die demokratische Mitbestimmung der gesamten Gesellschaft – ohne Vorbehalt. Das Parlament muss dafür ab morgen die notwendigen Gesetze schaffen und die verfassungsrechtlichen Fragen, die der Einsatz des Notrechts stellt, endlich klären.
Wir brauchen eine Wirtschaft, die nicht eventualvorsätzlich handelt. Eine Wirtschaft, die ihre externen Risiken und Kosten vollumfänglich integriert – ohne Vorbehalt.
Und wir brauchen ein Menschenbild – das den einzelnen Menschen, egal welcher Herkunft, welchen Geschlechts, Alters ins Zentrum der Politik stellt – ohne Vorbehalt.
Das wäre eine Politik der Vernunft, das ist die Revolution, die von morgen an von Bern ausgehen muss.
Coronavirus zeigt, wie wichtig ein mächtiger Staat istDas Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
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