Seine Stimme ist sanft wie Seide. Sein Blick neugierig wie der eines Jungen. Ai Weiwei (60) sitzt in einer Hotellobby in Lausanne, der chinesische Künstler mit Weltruhm empfängt BLICK zum Interview. Stets in seiner Hand: das Telefon, mit dem Weiwei sein Gegenüber fotografiert. Auch Szenen seines neusten Films hielt der Konzeptkünstler mit dem iPhone fest.
Für seinen Film «Human Flow» hat der Chinese während eines Jahres Flüchtlinge in 23 Ländern besucht. An Einzelschicksalen zeigt er ihren schwierigen Kampf ums Überleben und ihre Würde.
BLICK: Ihr Film ist eine Qual. War es auch so schmerzhaft, ihn zu drehen?
Ai Weiwei: Ja, sehr. Diese Erfahrung wird mich mein Leben lang verfolgen, die Bilder und Begegnungen mit den Menschen auf der Flucht habe ich verinnerlicht.
Aber Sie wollten ursprünglich gar keinen Film drehen.
Ich verfolgte das Geschehen in Griechenland zuerst nur in den Nachrichten. Dann flog ich mit meinem Sohn nach Lesbos. Und da waren plötzlich diese Schwimmwesten am Strand. Dann folgten Menschen in kleinen Booten. Und ich wusste nicht, wie ich meinem Sohn erklären sollte, was da gerade passierte. Aber als Künstler musst du immer deine Art und Weise finden, etwas zu verstehen. So fing ich an zu filmen.
Und so wurden Sie zu einer Art Journalist.
Ich wollte einfach wissen, wieso 65 Millionen Menschen auf dem ganzen Globus ihr Zuhause verlassen haben. Sie steigen in Boote, mit denen sie wahrscheinlich kentern werden, geben ihre letzten Münzen Schleppern oder laufen monatelang durch unwegsames Gebiet. Diese Leute erleben tiefste Verzweiflung. Ich wollte sie verstehen.
Immerwährend sind Sie im Bild. Zudem haben Sie das Foto des ertrunkenen Flüchtlingskindes AylanKurdi nachgestellt. Sie seien zynisch, wurde Ihnen vorgeworfen.
Ich wollte mit meinem Gesicht die kalten Steine berühren. Ich wollte wissen, was es bedeutet, als Hülle am Strand angespült zu werden. Die meisten Menschen machen alles, um die Realität auszublenden. Aber die Realität ist, dass dieser Bub nicht einfach so tot angeschwemmt wurde. Wir alle haben es zugelassen, dass er und Tausende andere ertrinken.
Aber wieso sollen wir, ganz weit weg vom Krieg, daran schuld sein? Es ist doch menschlich, dass man als Mitteleuropäer Distanz zur Tragödie auf dem Mittelmeer hat. Von der Distanz zu Flüchtlingen auf anderen Kontinenten ganz zu schweigen.
Es sind keine Tragödien, sondern menschengemachte Folgen von Krieg. Wenn wir immer weiter Waffen in diese Gebiete liefern, wenn wir diese Kriege lodern lassen, sind Flüchtlinge die Folge davon. Und ich habe versucht, eine Sprache zu finden, um denjenigen Gehör zu verschaffen, die sonst keine Stimme haben. Und von denjenigen gehört zu werden, die sonst so oft taub sind. Menschen wie Sie haben ja oft das Gefühl, die Flüchtlinge hätten überhaupt nichts mit ihrem Leben zu tun. Es ist ja alles so weit weg. Also drehen sie ihr Gesicht weg. Meine Aufgabe ist es, ihren Blick zu drehen.
Flüchtlinge im Film sind seelisch und körperlich in Not. Und da kommen Sie mit der Kamera. Ist das moralisch?
Diese Menschen kämpfen ums tägliche Überleben. Da ist ihnen ziemlich egal, ob da einer wie ich filmt und sie ausfragt. Aber ich weiss schon, dass meine Auftritte lächerlich wirken. Aber es ist keine Inszenierung, es ist Realität. Distanz liegt mir nicht. Ich will nahe an dem dran sein, was ich versuche zu verstehen.
Sie klagten über Albträume Ihrer Verfolgung und Verhaftung durch den chinesischen Staatsapparat. Half die Arbeit an diesem Film, Ihr Trauma zu überwinden?
Es half, meine eigene Lebenserfahrung im weltweiten Kontext zu verstehen. Ich bin so privilegiert: Ich sitze hier mit Ihnen, habe ein «fancy» Atelier in Berlin ...
Ai Weiwei ist einer der bekanntesten Künstler der Welt. 1957 geboren, wuchs er in der Verbannung auf. Sein Vater war ein regierungskritischer Dichter und galt als Staatsfeind. Ai Weiwei studierte Film, lebte von 1981 bis 1993 in New York. Zurück in Peking, wurde der Menschenrechtler und Dissident nach regierungskritischen Äusserungen 2011 inhaftiert und hatte bis 2015 Reiseverbot. Seither lebt und arbeitet er in Berlin, wo er eine Gastprofessur an der Universität der Künste erhielt. Noch bis Ende Januar 2018 sind in der Ausstellung «Ai Weiwei. D’ailleurs c’est toujours les autres» 40 seiner Werke in Lausanne zu sehen.
Ai Weiwei ist einer der bekanntesten Künstler der Welt. 1957 geboren, wuchs er in der Verbannung auf. Sein Vater war ein regierungskritischer Dichter und galt als Staatsfeind. Ai Weiwei studierte Film, lebte von 1981 bis 1993 in New York. Zurück in Peking, wurde der Menschenrechtler und Dissident nach regierungskritischen Äusserungen 2011 inhaftiert und hatte bis 2015 Reiseverbot. Seither lebt und arbeitet er in Berlin, wo er eine Gastprofessur an der Universität der Künste erhielt. Noch bis Ende Januar 2018 sind in der Ausstellung «Ai Weiwei. D’ailleurs c’est toujours les autres» 40 seiner Werke in Lausanne zu sehen.
In Berlin leben Sie im Exil, weil Sie in Ihrer Heimat China verfolgt und inhaftiert wurden. Auch Ihr Vater wurde für 20 Jahre in die Verbannung geschickt. Sie wuchsen geächtet von der Gesellschaft auf, weil er regimekritische Gedichte verfasst hatte und deshalb als Staatsfeind galt. Im Film trösten Sie eine junge Syrerin, Sie wirken vertraut wie ein Familienmitglied. Ist Ihre eigene Flüchtlingsvergangenheit der Grund dafür?
Oberflächlich betrachtet mag das so scheinen. Aber ich habe bei Begegnungen mit Flüchtlingen auch genau das Gegenteil erlebt.
Als Sie mit einem jungen Afghanen Pässe tauschten und scherzten, Sie könnten ja Ihr Studio in Berlin gegen sein stickiges Zelt einwechseln.
Genau. Da hatte ich das schlimmste Gefühl: Ich merkte, welch riesige Kluft zwischen uns liegt. Ich sagte den Menschen, wir seien alle gleich. Aber dies kaum ausgesprochen, wusste ich, dass ich lüge. Dieses Gefühl wird mich mein Leben lang verfolgen.
Hoffnung sieht man selten in Ihrem Film. Aber die Tiger-Geschichte ist wahnsinnig berührend und verstörend zugleich. Da vegetiert ein kranker Tiger in einem verlassenen Zoo im Gazastreifen, läuft nur noch im Kreis und leidet. Für seine Rettung, damit er in eine Auffangstation in Südafrika kommt, arbeiten Israeli, Palästinenser, jordanische Behörden und natürlich Tierschutzvereine sofort zusammen. Alle wollen dem Tiger helfen.
Ich fand das schön und grotesk zugleich. Millionen Menschen in Flüchtlingscamps vegetieren dahin. Hilfe wäre möglich, scheitert aber am politischen Willen. Aber wenn es um einen Tiger geht, arbeiten plötzlich alle Hand in Hand, um ihn zu retten.
Braucht der Mensch denn Tiere, um seine Menschlichkeit zu spüren? Ich habe mich beim Filmschauen selbst dabei ertappt. In einem griechischen Flüchtlingslager lädt eine Frau, die ihre Katze mit auf die Flucht genommen hat, Sie in ihr Zelt ein. Dann zeigt sie Ihnen witzige Katzenbilder von damals, als das Tier mit ihr in Frieden in Syrien lebte. Bei der Szene kamen mir die Tränen.
Es ist unglaublich, diese Frau hat alles verloren – aber ihre Katze konnte und wollte sie nicht in Aleppo zurücklassen. So hat sie sie übers Meer mitgenommen. Und klar, über die Katze haben wir uns blind verstanden. Schliesslich hatte ich in Peking rund dreissig Stück in meinem Studio. Ich glaube, Katzen haben eine geheime Kraft (lacht).
So wie der Bündner Künstler Not Vital ...
Oh ja, Not! Kennen Sie Not? Das ist ein ganz besonderer Mensch. Wir sind Nachbarn in Peking, und ich schätze ihn als Kollegen sehr.
In Graubünden, der Region, aus der Not Vital stammt und wo auch ich aufgewachsen bin, warte noch ein Geschenk auf Sie. Ich habe gehört, Vital habe Ihnen ein Kunstwerk gewidmet.
Wirklich? Das wusste ich nicht. Ich muss Not also unbedingt bald in den Schweizer Bergen besuchen. Sie stammen auch aus dieser Ecke der Schweiz? Sprechen Sie denn diese grossartige Sprache?
Rätoromanisch? Nein, leider nicht. Trotzdem : «Grazi a fit g !»
***
Der Dokumentarfilm «Human Flow» läuft ab Donnerstag, 16. November, im Kino.
Am Montag empfängt Asylministerin Simonetta Sommaruga (SP, 57) im Hotel Bellvue in Bern die sogenannte «Kontaktgruppe zentrales Mittelmeer». Vertreter aus 13 europäischen und afrikanischen Staaten sowie internationaler Organisationen wollen eine Strategie ausarbeiten, um die Migration übers Mittelmeer einzudämmen.
Die Justizministerin hat bereits einen Vorschlag. Sie will das für Syrien gültige «Resettlement»-Programm auf weitere Nationen ausweiten. Das heisst, das Uno-Flüchtlingsprogramm UNHCR würde vor Ort prüfen, wer gemäss Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtling gilt. Nach der Prüfung durch den Nachrichtendienst des Bundes, ob eine Person nach Schweizer Asylgesetz anerkannter Flüchtling ist, würde sie direkt in die Schweiz reisen können.
«Die Schweiz kann es noch besser machen, und ich engagiere mich dafür, dass wir unserer humanitären Tradition gerecht werden», sagt Sommaruga in der Zeitung «WoZ».
Die SVP läuft Sturm: «Das geplante Resettlement-Programm würde völlig falsche Anreize schaffen: Jeder clevere Flüchtling würde seine Frau und seine Kinder in die Camps schicken, wo sie quasi für Europa ausgewählt werden – in der Hoffnung, danach mittels Familiennachzug nachfolgen zu können», sagt SVP-Chef Albert Rösti in der «Aargauer Zeitung». (Cinzia Venafro)
Am Montag empfängt Asylministerin Simonetta Sommaruga (SP, 57) im Hotel Bellvue in Bern die sogenannte «Kontaktgruppe zentrales Mittelmeer». Vertreter aus 13 europäischen und afrikanischen Staaten sowie internationaler Organisationen wollen eine Strategie ausarbeiten, um die Migration übers Mittelmeer einzudämmen.
Die Justizministerin hat bereits einen Vorschlag. Sie will das für Syrien gültige «Resettlement»-Programm auf weitere Nationen ausweiten. Das heisst, das Uno-Flüchtlingsprogramm UNHCR würde vor Ort prüfen, wer gemäss Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtling gilt. Nach der Prüfung durch den Nachrichtendienst des Bundes, ob eine Person nach Schweizer Asylgesetz anerkannter Flüchtling ist, würde sie direkt in die Schweiz reisen können.
«Die Schweiz kann es noch besser machen, und ich engagiere mich dafür, dass wir unserer humanitären Tradition gerecht werden», sagt Sommaruga in der Zeitung «WoZ».
Die SVP läuft Sturm: «Das geplante Resettlement-Programm würde völlig falsche Anreize schaffen: Jeder clevere Flüchtling würde seine Frau und seine Kinder in die Camps schicken, wo sie quasi für Europa ausgewählt werden – in der Hoffnung, danach mittels Familiennachzug nachfolgen zu können», sagt SVP-Chef Albert Rösti in der «Aargauer Zeitung». (Cinzia Venafro)