Wann kann sich das Schweizer Volk erneut zur Personenfreizügigkeit und zu den Bilateralen Verträgen äussern? Nachdem das Parlament im Dezember die SVP-Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) sehr sanft umgesetzt hatte, schienen mehrere Urnengänge bevorzustehen: das Referendum gegen das Gesetz, die Initiative «Raus aus der Sackgasse» (Rasa) und ein Gegenvorschlag dazu.
Nun zeigen BLICK-Recherchen: So bald dürfte es keine Abstimmung geben. Die Klärung des Verhältnisses Schweiz-EU rückt in weite Ferne.
Gegenvorschläge ohne Chancen
Einerseits ist seit letztem Mittwoch klar, dass das MEI-Referendum – einsam gestartet vom SP-Mitglied Nenad Stojanovic – aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zustande kommt. Andererseits ist ebenfalls seit Mittwoch klar, dass die beiden bundesrätlichen Gegenvorschläge zu Rasa im Parlament chancenlos sein werden.
Und: Die Parteien arbeiten zwar vordergründig an eigenen Rasa-Gegenvorschlägen, sie haben in Wahrheit aber wenig Interesse, einen mehrheitsfähigen Kompromiss zu zimmern. «CVP und FDP wollen höchstens einen inhaltslosen Gegenvorschlag, die SP dagegen eine solide Verfassungsgrundlage für die Beziehungen zu Europa», tadelt SP-Fraktionschef Roger Nordmann. Da sei ein Kompromissvorschlag «unwahrscheinlich». Laut Nordmann wäre aber nicht schlimm, wenn kein Gegenvorschlag zustande komme.
Auch FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis hält einen Rasa-Gegenvorschlag nicht für besonders nötig: «Wir Freisinnigen brennen nicht auf eine baldige Europa-Abstimmung.» Umso mehr, da bei verschiedenen Wahlen in Europa Umbrüche möglich seien. «Es werden viele Ideen präsentiert – wohl keine wird im Parlament eine Mehrheit finden», sagt auch CVP-Chef Gerhard Pfister voraus.
Riskante Abstimmungsschlacht
Wieso geben die Partei- und Fraktionschefs schon auf? Weil sie ganz offensichtlich der Meinung sind, mit dem Inländervorrang sei die MEI umgesetzt. Und weil sie wenig Lust auf eine riskante Abstimmungsschlacht um die Bilateralen haben. Sollte das Volk nämlich einen Rasa-Gegenvorschlag ablehnen, müsste das Verdikt wohl so interpretiert werden, dass die Schweizer eben doch eine strikte Zuwanderungsbegrenzung à la SVP verlangen. Das will man von SP bis FDP verhindern.
Der Plan der Parteistrategen: Die Rasa-Initianten werden zu einem Rückzug überredet, oder die Initiative kommt ohne Gegenvorschlag vors Volk – und scheitert grandios, weil ohne jeglichen Rückhalt bei den Parteien. Nicht mal die SP würde den Initiatnen beistehen. «Falls Rasa doch ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung kommt, habe ich meine Zweifel, dass wir von der SP uns für eine chancenlose Rasa-Initiative aufopfern werden», sagt Nordmann.
Möglich scheint gar, dass das Parlament sich überhaupt nicht mehr mit einem Gegenvorschlag befassen muss. Bundesratsnahe Quellen halten es für denkbar, dass die Regierung Justizministerin Simonetta Sommaruga zurückpfeift, weil ihre Vorschläge von den Parteien derart zerrissen worden sind.
In Zugzwang käme so am Ende die SVP: Sie müsste sich mit der laschen MEI-Umsetzung zufriedengeben. Oder ihre Drohung umsetzen und einen europapolitischen Showdown erzwingen – mit einer Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit.