Warum der Bundesrat plötzlich aufs Tempo drückt
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Kehrtwende bei den Lockerungen
Warum der Bundesrat plötzlich aufs Tempo drückt

Das Ende der Notmassnahmen kam schneller als erwartet. Doch hinter den Kulissen war das Ringen um die Exit-Strategie schon länger im Gange.
Publiziert: 02.05.2020 um 23:45 Uhr
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Aktualisiert: 04.05.2020 um 15:44 Uhr
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Am vergangenen Mittwoch überraschte der Bundesrat die Bevölkerung mit seiner raschen Lockerungsstrategie.
Foto: keystone-sda.ch
Camilla Alabor und Simon Marti

Zwei Wochen lang war der Bundesrat in Sachen Lockerungen mit angezogener Handbremse unterwegs. Am Mittwoch dann löste die Regierung die Bremse – und schaltete gleich einen Gang höher: Bereits am 11. Mai sollen Beizen und Bars wieder öffnen. Auch Museen dürfen dann wieder Besucher empfangen.

In den Augen der Öffentlichkeit kam der Entscheid abrupt, der Tempowechsel überraschte. Als Gesundheitsminister Alain Berset (48, SP) Mitte April den Fahrplan für die ersten Lockerungen vorstellte, hatte er das Gastgewerbe nicht einmal erwähnt. Auch die rasche Wiedereröffnung von Museen steht im Kontrast zum Bescheid von damals in dem nannte der Bundesrat noch den 8. Juni als Datum für die Wiederöffnung von Museen und Bibliotheken.

Extrempositionen von Maurer und Berset

Der bundesrätliche Lockerungs-Sprint ist das Resultat von wochenlangem Ringen hinter den Kulissen. Die Extrempositionen vertraten dabei Finanzminister Ueli Maurer (69, SVP) auf der einen und Berset auf der anderen Seite.

Maurer hatte schon bei Ausbruch der Corona-Epidemie in der Schweiz vor den wirtschaftlichen Folgen eines Lockdowns gewarnt. Auch in den vergangenen Wochen liess er kaum eine Gelegenheit ungenutzt, gegen das aus seiner Sicht zu harsche Eingreifen seiner Bundesratskollegen zu opponieren.

Ausgerechnet am Tag der entscheidenden Sitzung brachte die «NZZ» diese ein Interview mit Maurer. Darin kommentierte er die bundesrätliche Strategie der vergangenen Wochen mit den bissigen Worten: «Das alles kollegial mitzutragen, war wirklich nicht immer einfach.» Während das Land Maurers Attacke noch verarbeitete, musste Berset bereits die Lockerungen verkünden. Daraus zu schliessen, dass der SVP-Mann dem Bundesrat seinen Willen aufgedrückt hat, wäre aber verfehlt. Noch immer geht der Regierungsmehrheit die Linie des Finanzdepartements zu weit. Wie es aus dem Umfeld des Bundesrats heisst, verlangte Maurer am Mittwoch vergeblich, die Restriktionen in der Gastronomie am 11.Mai praktisch aufzuheben. Die Mehrheit beschloss stattdessen ein Limit von vier Gästen pro Tisch.

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Versammlungsverbot bleibt

Ebenfalls vergeblich habe der Finanzminister eine Strategie verlangt, wie Versammlungen mit bis zu 1000 Personen wieder durchzuführen seien. Auch mit seinem Vorschlag einer Ausnahmeregelung für Fälle, in denen mehr als fünf Leute zusammenkommen, biss er bei seinen Ratskollegen auf Granit. Das Verbot solcher Versammlungen gilt nach wie vor.

Gesundheitsminister Alain Berset dagegen geht gerade alles eher zu schnell als zu langsam. Eines der Szenarien, die das Innendepartement zu Beginn der Krise zirkulieren liess, sah einen Lockdown vor, der fast doppelt so lange gedauert hätte. Auch im Bezug auf die Gastronomie hatte Berset vor der Mittwochssitzung ein behutsameres Tempo vorgeschlagen.

Bis vor kurzem lag eine Mehrheit des Bundesrats auf der Linie von Berset. Noch bis Ende vergangener Woche hielt die Landesregierung an ihrer vorsichtigen Strategie fest. Zumindest hatte dies gegenüber den Parteispitzen so signalisiert, wie sich Grünen-Präsidentin Regula Rytz (58, BE) erinnert. Weitere Teilnehmer des Treffens bestätigen dies. Am Mittwoch habe Alain Berset vor den Medien dann aber «das Gegenteil» davon vertreten, sagt Rytz. Und sie kommt zum Schluss: «So setzt die Landesregierung das Vertrauen von Bevölkerung und Parlament aufs Spiel.»

Kritik von der SP

Auch aus der SP ist Kritik laut geworden «Zugespitzt sind wir nun an einem Punkt, an dem einige offen die Frage stellen, wie viele Tote wir in Kauf nehmen wollen, um möglichst schnell wieder zum wirtschaftlichen Alltag zurückkehren zu können», sagt der Aargauer Nationalrat Cédric Wermuth (34). «Ich hoffe inständig, dass wir nicht zu früh umschalten.»

In Tat und Wahrheit hatte der Bundesrat bereits in den ersten April-Wochen beraten, wann Restaurants ihre Türen wieder für Gäste öffnen dürfen. Weil jedoch bis zur Medienkonferenz vom 16.April keine Einigung erzielt werden konte, glaubte der Bundesrat, das Thema ausklammern zu können. Angesichts der heftigen Empörung, die sich danach in den Medien widerspiegelte, räumt man jetzt auch in der Verwaltung ein: Diese Kommunikationsstrategie ist in die Hosen gegangen.

Stattdessen setzte nicht zuletzt die nationalrätliche Wirtschaftskommission Druck auf. Sie forderte eine Öffnung der kleinen Läden ab 27.April und eine etappenweise Inbetriebnahme der Restaurants per 11.Mai.

Gössi enttäuscht von Lockerungen

Scharfe Kritik äusserte auch Petra Gössi (44, SZ), Präsidentin der FDP, die immerhin zwei Bundesräte stellt. Sie zeigte sich von der zögerlichen Lockerung «enttäuscht» und warf der Regierung vor, ihr fehle eine «echte Strategie». Die SVP lancierte sogar eine regelrechte Kampagne, um ein Ende des Lockdowns durchzusetzen.

Und noch etwas dürfte den Bundesrat zu seinem Entscheid vom Mittwoch bewogen haben: die ausserordentliche Session mit Beginn am Montag. CVP-Chef Gerhard Pfister (57, ZG): «Es war klar, dass der Bundesrat vor der ausserordentlichen Session die offenen Fragen klären musste. Ansonsten hätte er damit rechnen müssen, dass das Parlament das Heft in die eigene Hand nimmt und selber Notverordnungen erlässt.»

Fallzahlen beeinflussen Bundesrat

Auch sinkende Fallzahlen dürften die Debatte im Bundesrat beeinflusst und dazu geführt haben, dass die Bevölkerung schon ab Montag übernächster Woche ihren Kaffee oder ihr Gläschen Wein wieder auswärts trinken darf: Vor über zwei Wochen wurden täglich um die 300 Neuinfizierte gemeldet; inzwischen ist es nur noch rund die Hälfte.

Doch die nun beschlossenen Lockerungen lassen zentrale Fragen offen. Etwa, wie ein Strategiewechsel aussehen könnte, wenn die Fallzahlen durch die Lockerungen erneut ansteigen. Einige Ständeräte wollten diese Woche genau dies in einer Kommissionssitzung von Pascal Strupler wissen, dem Chef des Bundesamts für Gesundheit.

Wirklich beruhigen konnte Strupler die Parlamentarier nicht. Das erzählen einige, die dabei waren: Strupler sei der Kommission eine Antwort schuldig geblieben.

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