BLICK: Herr Röthlisberger, haben Sie kein schlechtes Gewissen, wenn Sie auf der Strasse stehen?
Jürg Röthlisberger: Ich frage mich dann natürlich, was wir besser machen können. Aber Sie werden im neuen Staubericht sehen, dass wir unsere Hausaufgaben machen. Beim Stau aufgrund von Baustellen sind wir noch nicht ganz bei null, aber auf bestem Weg dazu. Noch gut zwei Prozent der Staustunden sind es wegen der Baustellen. Wir können mittlerweile bauen, ohne zu stauen.
Eine mutige Behauptung. Wir werden also nie mehr blockiert durch Baustellen?
Den Zürchern werden wir wegen des Ausbaus der Nordumfahrung noch einige Schmerzen bereiten müssen. Aber wir führen heute praktisch alle Arbeiten, für die Fahrspuren gesperrt werden müssen, in der Nacht aus, um den Verkehr zu entlasten. Die Bauarbeiter sind dabei arbeitsrechtlich und von den Gewerkschaften gut geschützt. Schwierig ist es, genügend Ingenieure und Bauleiter zu finden, die zusätzlich zur Tagesarbeit auch nächtelang durcharbeiten. Und die Arbeit an Wochenenden und in Nächten verteuern die Baustellen um etwa 15 Prozent. Doch das ist der politische Wille des Parlaments und volkswirtschaftlich sinnvoll.
Der Bundesrat setzt künftig auf ein System von Mobility Pricing. Wie begeistert sind Sie?
Es ist nicht die abschliessende Lösung, sondern ein Element in einem Konzert, um die Strassen intelligenter zu nutzen. Es braucht aber neben den Ausbauten auch Verkehrsmanagement-Massnahmen. Sehr wirksam ist, in den Stosszeiten auf den Autobahnen die Maximal-Geschwindigkeit konsequent auf 80 Stundenkilometer zu reduzieren.
Damit werden Sie sich nicht beliebt machen.
Ja, das ist schwer zu vermitteln, aber ich sage: besser langsam fahren als schnell stauen. Wir wollen die Leute damit nicht plagen, aber schon aufgrund der physikalischen Gesetze ist klar, dass der Verkehr so viel flüssiger ist, weil der Abstand zwischen den Fahrzeugen reduziert werden kann und auch weniger Unfälle passieren. Auf den Hauptverkehrsachsen müssen wir in Zukunft vermehrt zu diesem Instrument greifen.
Weniger Fahrzeuge wären so aber auch nicht unterwegs.
Das ist richtig. Heute sitzt in den meisten Autos eine einzige Person, im Schnitt sind es rund 1,2 Menschen. Dieser Umstand bereitet mir Bauchschmerzen. Mit der heutigen Technologie muss es möglich sein, in diesem Bereich etwas zu bewegen.
Das grösste Stauproblem befindet sich jeden Tag auf den Mittelland-Autobahnen.
Absolut. Die Staukosten sind mittlerweile hässlich, die Zeit für eine Fahrt ist kaum mehr planbar. Für das Gewerbe und auch für Pendler ist die heutige Situation inakzeptabel. Es gibt zwei Möglichkeiten, und es braucht beide: Die Verkehrsfläche ausbauen und die vorhandene Fläche besser nutzen.
Was können Sie baulich noch unternehmen?
Wir haben ein Engpassbeseitigungsprogramm im Umfang von 5,5 Milliarden Franken. Damit können wir das Dringlichste machen. Um alle Engpässe zu beseitigen, bräuchten wir aber rund 19 Milliarden. Das Parlament gibt das Geld schrittweise frei. Gebaut ist bereits Härkingen–Wiggertal und Blegi–Rütihof, die Nordumfahrung Zürich ist in Bau. Nun folgt die zweite Phase dieses Programms: etliche Ausbauten in Genf oder Andelfingen–Winterthur. Mit dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds (NAF), wird das Programm zum Beispiel mit einer vierten Baregg-Röhre erweitert – die braucht es nämlich in einigen Jahren. Kurzfristig möchten wir rund um alle grossen Zentren die Pannenstreifen für den Verkehr freigeben. Als Nächstes ist Winterthur an der Reihe, in ein paar Jahren sollen es rund 170 Kilometer sein.
Pannenstreifen haben aber einen Sinn: Ist es nicht gefährlich, wenn die nicht mehr da sind?
Sie haben recht, es ist eine Güterabwägung zwischen Nutzen und Schaden. Es geht nicht überall. Pannenstreifen sind Verkehrsfläche für Pannenfahrzeuge, Arbeitsfläche für die orangen Dienste und im Winter auch ein Schneedepot. Deshalb geben wir sie nur ungern her, aber in den Stosszeiten müssen wir auch dieses Tafelsilber verpfänden. Bis in fünf Jahren sollten wir an den wichtigsten Stellen so weit sein.
Wo sehen Sie sonst noch Verbesserungspotenzial?
Ungenügend sind wir bei der Kommunikation. Die Autofahrer erhalten die Information, wo es staut, viel zu spät. Wir müssen schneller und verlässlicher informieren, das steht bei mir zuoberst auf der Prioritätenliste.
Haben Sie konkrete Pläne?
Zusammen mit der Swisscom versuchen wir im Rahmen eines Pilotprojekts noch bis Ende Jahr, aufgrund der anonymisierten Handy-Bewegungen die Verkehrsströme besser zu erfassen. Dann wollen wir daraus etwas Neues bieten. Vielleicht eine eigene Radiofrequenz ausschliesslich für Verkehrsprognosen. Mit DAB ist das möglich – wir könnten dann bei Tunnelunfällen auch direkt die Lenker ansprechen. Die Franzosen machen das mit Erfolg.
Apropos Tunnel: In diesen Tagen staut sich der Verkehr am Gotthard wie jeden Sommer kilometerlang. Wie kommen wir am Samstag am schnellsten in den Süden?
Fahren Sie über den Pass! Es gibt am Gotthard im Sommer quasi vier Spuren. Viele Leute haben allerdings Hemmungen, diesen Weg zu nehmen. Der Ausblick ist aber wunderschön, und auf dem Pass kann man sich auch einen Kaffee gönnen. Alternativ bieten sich auch der Simplon und der San Bernardino an.
Ändert sich nach dem Bau der zweiten Röhre etwas?
Die Kapazität bleibt gleich, aber die Stauzeit wird wohl abnehmen. Denn die Krux ist, dass die Fahrer gerade in den Hauptreisezeiten viele Fehler begehen. Im Gegensatz zum ÖV sitzen auf der Strasse nicht nur Profis am Steuer. Wenn der Belgier vergisst, den Tank zu füllen oder dem Zürcher der Motor überhitzt, sorgt das für riesige Verzögerungen, die nicht mehr aufzuholen sind. Mit der zweiten Röhre haben wir in diesen Fällen einen Pannenstreifen und so weniger Wartezeiten, weil der Tunnel wegen einer Panne nicht mehr gesperrt werden muss.
Mit dem NAF erhalten Sie zusätzliche 700 Millionen Franken. Sie haben bald sehr viel Geld, aber keine Projekte.
Es gibt sehr viel Bedarf an Unterhaltsarbeiten. Wir haben seit 1960 100 Milliarden Franken in Nationalstrassen investiert. Rund die Hälfte unserer 3000 Brücken sind heute 50 Jahre alt und müssen gepflegt werden. Und wir haben fünfmal mehr Tunnel als die Franzosen! Deshalb brauchen wir wirklich mehr Geld. Beim Ausbau fehlt tatsächlich vielerorts die Projektreife, aber wir arbeiten daran. Und man darf nicht vergessen: Die Einnahmen werden wegen der effizienteren Fahrzeuge massiv zurückgehen.