Jeder fünfte Schweizer lebt von der Hand in den Mund – BLICK zu Besuch im Supermarkt der Armen
«Viele bleiben für immer meine Kunden»

Neun Prozent der Einwohner in der Schweiz können ihre Rechnungen nicht bezahlen. Und es werden immer mehr. BLICK besuchte einen Caritas-Markt in Basel, der armen Menschen hilft – indem er ein Grundsortiment an Waren zu Tiefstpreisen anbietet.
Publiziert: 16.11.2017 um 23:25 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 21:28 Uhr
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Bettina Zeugin (49), Geschäftsleiterin der Caritas beider Basel, gibt BLICK Auskunft über den kleinen Caritas-Supermarkt. Es ist der älteste der 23 Caritas-Märkte in der Schweiz. Täglich nutzen rund 150 Menschen sein Angebot.
Foto: Siggi Bucher
Text: Julien Duc, Foto: Siggi Bucher

Eine unscheinbare olivgrüne Tür im Kleinbasler Rotlichtmilieu: Sie führt nicht etwa in ein Stundenhotel. Hinter der Fassade des alten Hauses befindet sich ein Supermarkt für Arme. Bereits seit 25 Jahren können Menschen in finanzieller Not hier Teigwaren, Milch und Duschmittel zu Tiefstpreisen einkaufen. Es ist der älteste der 23 Caritas-Märkte in der Schweiz. Täglich nutzen rund 150 Menschen sein Angebot – allein in dieser kleinen Filiale.

«Unsere Preise sind merklich günstiger, die Leute spüren die Entlastung in ihrem Geldbeutel», erzählt Bettina Zeugin (49), Geschäftsleiterin der Caritas beider Basel. Und diese Entlastung ist bitter nötig. Denn neue Zahlen zur Armut zeichnen ein beschämendes Bild für die reiche Schweiz: Jeder Fünfte lebt von der Hand in den Mund (siehe Artikel unten).

Möglich ist das günstige Angebot durch Sach- und Geldspenden. «Ausserdem kann Caritas viele Produkte zu speziellen Konditionen einkaufen», erklärt Zeugin. So könne die Filiale ein gewisses Grundangebot täglich anbieten, sagt sie nicht ohne Stolz.

Nur wer nachweislich in einer Armutssituation steckt, kann hier einkaufen

9 Prozent der Schweizer Bevölkerung hat Schulden.

Um hier einzukaufen, braucht man eine spezielle Karte. Diese erhält nur, wer nachweislich in einer Armutssituation steckt. Wie ein Blick auf die Kundschaft zeigt, kann das jeden treffen. Studenten, Senioren, Asylsuchende, Frauen, Männer: Alles habe sie schon gesehen, sagt Bettina Zeugin. Manche kämen bereits seit Jahren und würden wohl nie mehr aus der Armut finden. «Viele bleiben wohl für immer meine Kunden.» Andere jedoch müssten nur kurzfristig auf das karitative Angebot zurückgreifen.

Gedrückte Stimmung herrscht im Caritas-Markt nicht. Alles scheint irgendwie normal. Die Mitarbeiter nehmen Anteil am Schicksal der Kunden, ohne aufdringlich zu sein. Der Umgang ist freundlich, locker. Dafür sorgt auch der litauisch-russische Obdachlose Benjaminas Zavurskis (65). Basel sei ein Paradies für Obdachlose, sagt er. Der Schriftsteller erklärt, dass er sich mit Suppenküchen und Notschlafstellen über Wasser hält. Und natürlich mit dem Caritas-Markt, in dem er etwa drei Mal pro Monat einkauft.

Parfum ist ein Kassenschlager

Doch nicht alle sind so unbeschwert. Bettina Zeugin trifft es besonders, wenn Leute mit Kindern bei ihr posten: «Diese Kinder haben ein hohes Risiko, auch als Erwachsene in Armut zu leben.» Einige ihrer Kunden werden es ein Leben lang schwerhaben, vermutet sie. «Diese Perspektivlosigkeit ist sehr schwer zu ertragen.»

Bei der Frage, was denn die Kassenschlager seien, findet Zeugin ihr Lächeln wieder. «Parfum ist derzeit sehr beliebt. Es eignet sich als Weihnachtsgeschenk.» Auch vergünstigte Spielzeugautos und Kerzen haben Saison. Generell gingen Schokolade und frische Backwaren schnell weg, so Mitarbeiter Paul Kim (61). 

Saison hat im Caritas-Markt auch Ehrlichkeit. Eine junge, dunkelhäutige Kundin, die gerade ihren Einkauf bezahlt hat, kommt noch einmal zurück in den Laden. In der Hand eine Chipstüte, die ein anderer Kunde verloren hatte. Niemand hätte gemerkt, wenn die junge Frau die Tüte einfach mitgenommen hätte. Aber das tat sie nicht.

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Immer mehr können ihre Rechnungen nicht bezahlen

Die Schweiz ist steinreich. Im Schnitt besitzt hierzulande jeder umgerechnet 537 600 Dollar, so der Credit Suisse Global Wealth Report am Dienstag. Doch die Autoren des Berichts wiesen auch darauf hin, dass das Ver­mögen sehr ungleich verteilt ist.

Ein Umstand, den das Bundesamt für Statistik gestern mit eindrück­lichen Zahlen untermauerte: ­Demnach gelten knapp sieben Prozent der Schweizer Bevölkerung als dauerhaft arm. Das heisst, dass sie in mindestens drei der letzten vier Jahre nicht genügend Ressourcen für ein normales Leben hatten. Zum Beispiel, um eine unerwartete Zahnarztbehandlung oder eine andere Ausgabe zu bezahlen, die 2500 Franken kostet. Jeder Fünfte kann das nicht. Und es werden immer mehr: Heute sind neun Prozent der Bevölkerung irgendwo im Zahlungsrückstand – bei der Miete, bei Darlehen oder bei laufenden Rechnungen. Doppelt so ­viele wie vor fünf Jahren (siehe Grafik). Bei neun Prozent reicht das Einkommen nicht, um einmal im Jahr für eine Woche in die Ferien zu fahren. Auch dieser Wert ist gestiegen, wenn auch nur leicht. Doch vor fünf Jahren konnten sich nur 7,4 Prozent keine Ferienwoche leisten. Diese Armut, die nur schwer mit dem Bild der steinreichen Schweiz zu vereinbaren ist, trifft vor allem Arbeitslose, Nicht-EU-Ausländer, kinderreiche Familien und Allein­erziehende.

Die Schweiz ist steinreich. Im Schnitt besitzt hierzulande jeder umgerechnet 537 600 Dollar, so der Credit Suisse Global Wealth Report am Dienstag. Doch die Autoren des Berichts wiesen auch darauf hin, dass das Ver­mögen sehr ungleich verteilt ist.

Ein Umstand, den das Bundesamt für Statistik gestern mit eindrück­lichen Zahlen untermauerte: ­Demnach gelten knapp sieben Prozent der Schweizer Bevölkerung als dauerhaft arm. Das heisst, dass sie in mindestens drei der letzten vier Jahre nicht genügend Ressourcen für ein normales Leben hatten. Zum Beispiel, um eine unerwartete Zahnarztbehandlung oder eine andere Ausgabe zu bezahlen, die 2500 Franken kostet. Jeder Fünfte kann das nicht. Und es werden immer mehr: Heute sind neun Prozent der Bevölkerung irgendwo im Zahlungsrückstand – bei der Miete, bei Darlehen oder bei laufenden Rechnungen. Doppelt so ­viele wie vor fünf Jahren (siehe Grafik). Bei neun Prozent reicht das Einkommen nicht, um einmal im Jahr für eine Woche in die Ferien zu fahren. Auch dieser Wert ist gestiegen, wenn auch nur leicht. Doch vor fünf Jahren konnten sich nur 7,4 Prozent keine Ferienwoche leisten. Diese Armut, die nur schwer mit dem Bild der steinreichen Schweiz zu vereinbaren ist, trifft vor allem Arbeitslose, Nicht-EU-Ausländer, kinderreiche Familien und Allein­erziehende.

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