Herr Ziegler, die Schweiz handelte 1970 ein Geheimabkommen mit der PLO aus. Sie haben für den damaligen Aussenminister Pierre Graber den Kontakt zur PLO hergestellt. Wie kam es dazu?
Jean Ziegler: Graber kam auf mich zu, weil er dringlichst Informationen über die PLO brauchte. Er wollte Informationen etwa über die Kommandostruktur oder die verschiedenen Fraktionen innerhalb der PLO. Ich möchte an dieser Stelle deutlich betonen: Für mich gibt es und gab es nie eine Rechtfertigung für irgendeine Art terroristischer Gewalt. Insbesondere der Bombenanschlag von Würenlingen war ein fürchterliches Verbrechen.
Wozu brauchte Graber diese Informationen?
Er musste mit der PLO verhandeln, und dazu brauchte er präzises Wissen. Der Schweizer Nachrichtendienst hatte keines. Für mich war es selbstverständlich, mit meinen Kontakten zu helfen.
Wie kam Graber auf Sie zu?
Er sprach mich am Rand einer Fraktionssitzung im Bundeshaus an. Er wählte dann für die anderen Gespräche bewusst Orte, wo wir im Vertrauen und ohne Angst vor Überwachung sprechen konnten.
Sie scherzen?
Nein, überhaupt nicht. Geheimdienste waren allgegenwärtig – so wie heute. Wenn ich mit Kollegen vom Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte etwas wirklich Vertrauliches besprechen will, gehen wir am Genfersee spazieren. Hintergrundgeräusche machen die Überwachung schwierig.
Wie ging die Kontaktaufnahme mit der PLO vor sich?
Ich hatte zum Beispiel häufigen Kontakt mit meinem Freund, Ezedin Kalat, Chef des ersten offiziellen Büros der PLO in Paris, und auch mit dem Arzt Fathi Arafat, dem Bruder von Yassir Arafat, der als Präsident des roten Halbmonds häufig hier in Genf weilte. Man muss sich bewusst sein, wie die PLO-Vertreter damals in Europa im Untergrund agieren mussten. Sie lebten hier in Genf in billigen Absteigen, in ständiger Angst vor Mordkommandos. Mehrere dieser Mandatsträger waren bei meiner damaligen Frau und mir oft zum Abendessen. Wedad kochte hervorragend, und die Gerichte aus ihrer ägyptischen Heimat boten arabischen Vertretern nicht nur aus der PLO ein wenig Heimat. So lernte ich mehrere Führungsfiguren kennen, und es entstanden Vertrauensverhältnisse.
Wie brachten Sie den Kontakt zwischen Graber und dem informellen PLO-Aussenminister Farouk Kaddoumi zustande?
Ich war nur am Anfang beteiligt. Ich wurde von beiden Seiten gebeten, etwas auszurichten oder um einen Telefonanruf zu bitten. Dann liefen die Kontakte bilateral zwischen Graber und Kaddoumi.
Daraus resultierte ein stillschweigendes Abkommen: Die Schweiz half der PLO bei der Uno in Genf, diplomatisch Fuss zu fassen, im Gegenzug blieb die Schweiz unbehelligt von Terrorakten. Hochriskant, was Graber tat?
Ganz klar, er hat viel aufs Spiel gesetzt. Wäre das herausgekommen, es wäre das politische Ende von Graber gewesen. Er nahm bewusst ein hohes Risiko in Kauf. Dies, um Schaden von der Schweiz abzuwenden.
Muss man die Person Pierre Graber vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse neu beurteilen?
Ganz klar. Er hat effektiv dafür gesorgt, dass es zu keinen Anschlägen mehr gekommen ist. Man muss es ihm hoch anrechnen, in dieser Situation bewies er Weitblick und grossen Mut. Ihm war bewusst, dass er sich so in die Hand der PLO begeben und sogar erpressbar würde. Aber er wollte die Schweiz vor weiteren terroristischen Angriffen schützen. Und als Sohn einer russischen Kommunistin hatte er ein Sensorium für Revolutionäre.
Graber trat unerwartet und schon fast überstürzt zurück, die Medien suchten Antworten – fanden aber keine. Haben Sie eine Erklärung?
Ich kann ihnen keine Fakten liefern. Meine Hypothese ist: Er wurde von den Gegnern einer Verständigung mit den Palästinensern zum Rücktritt gezwungen. Mit dem Wissen über das Abkommen hatten sie ja wohl auch ein Druckmittel.
Dann hätten ausländische Dienste im Gegensatz zur Öffentlichkeit in der Schweiz etwas wissen müssen. Ist das nicht absurd?
Ich kann es Ihnen nicht beweisen. Hier in Genf wimmelte es von Agenten – Amerikaner, Russen, Franzosen und alle anderen. Ich sage nur: Bundespräsident Otto Stich erhielt das Abhörprotokoll der Telefonate von Elisabeth Kopp mit ihrem Ehemann auch von den Amerikanern.
Nach der Verständigung zwischen Graber und der PLO unterblieb überraschend die Anklage gegen den mutmasslichen Täter beim Absturz der Swissair-Coronado in Würenlingen. Hätte dies die PLO verärgert? Wäre die Schweiz wieder zum Ziel geworden?
Die Gefahr bestand. Die PLO war der offiziellen Schweiz nicht gut gesinnt. Sie galt ihr als Teil des imperialistischen, pro-israelischen Westens. Wahrscheinlich hätten Einzelgruppen wieder Anschläge versucht. Eine Anklage wäre eine stumpfe Waffe gewesen.
Können Sie nachvollziehen, dass viele Angehörige der Opfer noch immer wissen möchten, wer für den Tod der Ihren verantwortlich ist? Immerhin geht es um 47-fachen Mord.
Das beschäftigt mich bis heute noch sehr. Es ist tragisch, wenn man keine Hinweise darauf hat, warum die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Es ist gut, wenn nun alles an die Öffentlichkeit kommt. Die Angehörigen haben ein Recht auf die Wahrheit.
Im Buch über diesen Fall scheint das Spannungsfeld zwischen Staatsräson, der neuen Bedrohung der Zivilluftfahrt durch Anschläge von palästinensischen Terrorkommandos und der Rechtstaatlichkeit auf. Wie würden Sie als Zeitzeuge heute die Gewichtungen beurteilen?
Das ist ein Vorzeigebeispiel, wie schwierig es ist, solche Widersprüche aufzulösen. Es kollidieren entgegengesetzte Werte. Die Weltgemeinschaft ist ständig damit konfrontiert – Gerechtigkeit oder Frieden. Ein Beispiel: Der internationale Strafgerichthof hat einen internationalen Haftbefehl gegen Sudans Diktator Omar al-Bashir erlassen. Das hat die Friedensbemühungen der Uno im westsudanesischen Darfour torpediert. Es ist ein unlösbares Dilemma. Ich hoffe, dank dieses grossartigen Buches, werden wir solche Fragen grundsätzlich diskutieren.
Stimmt die Einschätzung des damaligen Bundeskanzlers Walter Buser, dass Sie Graber gern halfen, weil Sie so auch ihre patriotische Seite ausleben konnten?
So weit habe ich nicht gedacht. Ich liebe die Schweiz und ihre uralte Demokratie. Punkt.