Jean Ziegler ist nur noch aus Nostalgie Sozialdemokrat
«Die SP hat ihre Arbeit erst gar nicht gemacht!»

Wie Jean Ziegler dem späteren Uno-Generalsekretär Kofi Annan die Frau vor der Nase wegheiratete und was ihn bis ins hohe Alter zur Revolution antreibt: Ein Interview über Eitelkeit, Religion und die Rettung der Welt.
Publiziert: 30.01.2017 um 09:27 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 22:55 Uhr
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«Je radikaler du sprichst, umso kleinbürgerlicher musst du aussehen», sagt Jean Ziegler.
Foto: Nicolas Righetti
Interview: Cinzia Venafro

In der Welt wird er gehört, in der Schweiz ist er weitherum verhasst. Der gebürtige Thuner Jean Ziegler (82) gehört zu den schärfsten und dienstältesten Globalisierungskritikern – von links. Dass im Moment die Rechten den Takt vorgeben, hält der ewige Revolutionär für eine vorübergehende Erscheinung. Und für ein Versagen der Sozialdemokratie. BLICK traf ihn zu Hause in Russin GE zum Gespräch über schöne Frauen, seine neu entflammte Liebe zum Papst und darüber, warum sein Sohn ihn primitiv findet.

BLICK: Herr Ziegler, haben Sie nach der Inauguration von Donald Trump gejubelt oder geweint? Schliesslich ist er wie Sie ein entschiedener Globalisierungsgegner.
Jean Ziegler:
Nein, nein, nein! Das ist die Krönung der Scheinheiligkeit. Mit Trump hat sich die internationale Finanzoligarchie demaskiert. Sie sitzt jetzt im Pentagon am Atomknopf. Bisher haben die Milliardäre indirekt die Weltpolitik diktiert. Jetzt hockt das Monster im Weissen Haus. Gemäss «New York Times» besitzen Trumps zwölf wichtigste Kabinettsmitglieder zusammen 71 Milliarden Dollar Privatvermögen.

Also haben Sie und Ihre Linken und die Kommunisten mit der Revolution versagt.
In keiner Weise. Wir sind in der letzten Phase. Der Milliardär Warren Buffet sagt: «Wir sind im Klassenkampf, wir haben ihn initiiert – und meine Klasse gewinnt.» Die Apokalypse kommt.

Harmagedon steht kurz bevor?
Genau, wir stehen vor Harmagedon! Sie sind sicher katholisch – stockkatholisch (lacht).

Macht Sie die Ideologie blind? Der Zorn der Zivilgesellschaft, den Sie auch in Ihrem neuen Buch «Der schmale Grat der Hoffnung» ausführen, kommt heute von rechts. 
Das ist eine komplett falsche Analyse. Karl Marx sagte schon: «Der Revolutionär muss im Stande sein ...

... das Gras wachsen zu hören.» Sie werden seit Jahrzehnten nicht müde, diesen Satz zu zitieren. 2017 aber hören wir Rechtspopulisten wie Le Pen, Petri und Wilders. Diese bedienen die Vergessenen, die Arbeiterschicht. Ihre Revolution gibt es nicht. Am Tag nach der Inauguration haben Millionen Menschen, vor allem Frauen, in Washington und weltweit gegen Trump demonstriert, zwei Millionen allein in Washington. Das ist radikale Opposition! Das zeigt, dass die Zivilgesellschaft mobilisierter und auch entschlossener ist denn je! Meine Hoffnungen sind bei diesen neuen sozialen Bewegungen. Der Aufstand des Gewissens steht bevor.

Sie glauben unerschütterlich an das Gewissen.
Immanuel Kant sagte: «Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.»

Mit diesen alten Wahrheiten richten Sie nichts aus gegen den Aufstieg der Rechten.
(Überlegt lange) Eine Marine LePen könnte bereits im ersten Wahlgang gewählt werden, das sehe ich ja schon. Diese Bewegungen sind sehr organisiert. Der Aufstand der Anständigen auf der anderen Seite hat kein gemeinsames Programm, kein Zentralkomitee, keine Parteilinie. Motor ist einzig das Bewusstsein: Ich bin der andere, der andere ist ich.

Das klingt schön. In der Realität haben die Menschen Angst. Die Flüchtlingskrise bestimmt alle Wahlkämpfe.
Es ist eine Schande. Was Europa mit den Flüchtlingen bietet, ist die Selbstliquidation! Es gibt eine Flüchtlingskonvention der Uno von 1951, ein Menschenrecht auf Asyl. Aber die früheren Ostblockstaaten, die man niemals hätte aufnehmen dürfen, ziehen Stacheldrahtzäune hoch. Und dieser Orbán in Ungarn oder die Brüder in Polen, die sich wie Nazis benehmen, leben von Solidaritätszahlungen der EU und übrigens auch der Schweiz! Die Betonköpfe der EU tun nichts dagegen. Denen müsste man den Geldhahn zudrehen. Stattdessen wird nur beschwichtigt. Aber wenn man den Rechtsextremen, den Frauenfeinden, den Schwulen- und Lesbenhassern, den Antisemiten, ja den Nazis entgegenkommt, ist das komplett falsch. Die hören nicht auf, wenn wir eine Allianz mit ihnen eingehen. Appeasement hilft nicht gegen Rechtsextreme. Das sind Feinde der Menschheit.

Auch in der Schweiz ist die Linke in der Defensive. Wie sehen Sie den Zustand der SP? Das Volk stimmte gegen die 1:12-Initiative, gegen mehr Ferien, gegen die Einheitskrankenkasse, gegen die Mindestlohn-Initiative. Alles linke Vorhaben.
Das Schweizer Volk stimmt ständig gegen sich selbst. Es ist zum grossen Teil entfremdet durch die neoliberale Wahnidee.

Die SP hat versagt?
Schlimmer, sie hat ihre Arbeit erst gar nicht gemacht! Ich auch nicht. Bei Einführung des Proporzsystems 1919 haben wir 24,8 Prozent Stimmen geholt. Jetzt sind wir bei 18. Das zeigt, dass über hundert Jahre hinweg die sozialdemokratische Politik weitgehend falsch war. Die SP ist das Rote Kreuz des Kapitalismus: Wir pflegen ein bisschen die Verwundeten, klagen die schlimmsten Ungerechtigkeiten an. Aber das ist doch keine Politik!

Das ist auch ein Vorwurf an SP-Chef Christian Levrat, der selber den Klassenkampf ausgerufen hat.
Levrat ist gut als Person, er weiss, wovon er spricht. Er ist aber in der falschen Partei. Die SP ist ein Wahlverein. Das ist keine soziale Bewegung mehr. Junge wie meine Enkel gehen nicht mehr in Parteien, sie gehen zu Amnesty International, zu Attac, zu Greenpeace.

Die gewählten Politiker sind Ihrer Auffassung nach willenlose Marionetten?
Viele von ihnen hocken in Verwaltungsräten. Bei den Sozialisten ist es ein klein wenig besser, die lassen sich beispielsweise wenigstens nicht direkt von Krankenkassen-Mogulen bezahlen.

Aber wer ist das Volk? Die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative sei eine Missachtung des Volkswillens, sagt die SVP, viele linke Parlamentarier sehen das auch so.
Die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative ist kreuzfalsch. Wenn es eine Verfassung gibt, dann gilt diese. Aber das Grundübel ist die Klassenkollaboration der Linken in der Schweiz.

Wieso sind Sie eigentlich noch SP-Mitglied?
Eine gute Frage. Aus nostalgischen Gründen, in treuem Gedenken an den Generalstreik von 1918.

Im Dokumentarfilm «Der Optimismus des Willens» sieht man Sie kampfeslustig wie eh und je. Sie halten Fotografien von Kindern in die Kamera, die wegen Hunger verstümmelt sind.
Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren an Hunger und dessen Folgen. Auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt! Die Landwirtschaft von heute könnte zwölf Milliarden Menschen ernähren – fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Die 85 reichsten Menschen besitzen gleich viel wie 3,5 Milliarden – also die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung. Das ist eine unglaubliche Monopolisierung des Reichtums! Ein Kind, das jetzt, wenn wir zwei sprechen, an Hunger stirbt, wird ermordet.

Haben Sie im Einsatz für diese Kinder Ihren Lebenssinn gefunden? «Um den Sinn des Leben zu entdecken, genügt es nicht, das Leben zu lieben. Wir stossen nicht auf den Sinn, wie wir beim Gehen auf einen Stein stossen», schreiben Sie in Ihrem neusten Buch.
Ich glaube an die Auferstehung und dass die Geschichte einen Sinn hat. So fürchterlich die gegenwärtige Situation ist: Die Menschwerdung des Menschen ist im Gang. «Der Weg ist gesäumt mit Leichen, aber er führt zur Gerechtigkeit», sagt Jean Jaurès, der Gründer der sozialistischen Bewegung in Frankreich.

Bei allen noblen Anliegen: Ihre Eitelkeit ist genauso Ihre Triebfeder. 
Für jeden, auch für mich, ist Eitelkeit eine Gefahr. Ich muss schauen, dass ich ihr nicht erliege. Die Eitelkeit ist ein Instrument im Kampf. Aber das Leben ist so gopferteckel kurz – ich muss mit den Waffen, die ich habe, das Maximale für diejenigen tun, die zugrundegehen.

Diesen Kampf führen Sie auch als Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Kofi Annan hat Sie im Jahr 2000 dazu ernannt. Annan und Sie, sagten Sie einst, seien «als junge Männer den gleichen Frauen nachgelaufen». 
(Lacht) Es stimmt, Kofi und ich waren damals sehr jung und er unglaublich elegant! Aber meine erste Frau, die schöne und kluge Ägypterin Wedad, die hat dann mich geheiratet und nicht Kofi (lacht). Es war ein grosser Konkurrenzkampf um sie.

Seit 17 Jahren ist nun Erica die Frau an Ihrer Seite.
Die wunderbarste Frau der Welt! Sie ist meine absolute Leidenschaft, mein Leben.

Erica begleitet Sie im Dokumentarfilm nach Kuba, verdreht die Augen, wenn Sie Dinge sagen wie: «Lieber keine Pressefreiheit als faschistische TV-Sender aus Miami, die die öffentliche Meinung vergiften!» Das klingt fast nach Donald Trump.
«Ein Wahlzettel macht den Hungrigen nicht satt», sagt Bertold Brecht. Für einen Analphabeten ist die Pressefreiheit nichts. Danach, wenn jeder lesen kann, kommen Parteienvielfalt und Pressefreiheit. Solange die Welt aber so ausschaut wie heute, ist die Pressefreiheit für die ärmsten Völker ein Luxus.

Lassen Sie uns etwas persönlicher über Sie sprechen.
Nicht zu persönlich, das mag ich nicht so.

Doch, doch. Sie sind jetzt 82 Jahre alt. Kann man als Revolutionär in Würde altern?
Ich sage wie Voltaire: Je veux mourir vivant – ich möchte lebend sterben (lacht)! Mein neues Buch ist nur eine Pause am Wegrand.

Man könne den eigenen Tod nicht akzeptieren, sagen Sie im Film. Fürchten Sie ihn?
Ja, ich habe Angst vor dem Tod. Der Körper wird sterben, aber mein Bewusstsein nicht. Ich bin überzeugt, in ihm wohnt die Unendlichkeit.

Reden Sie mit Gott?
Dazu sage ich nichts. Dass es Gott nicht gibt, ist unmöglich. Ich bin auch von der Vorsehung und der Wiederauferstehung überzeugt.

Kürzlich lobten Sie den Papst als anständigen Menschen. Sie nähern sich dem Vatikan an, den sie einst verteufelten!
Der Papst prangert die Verbrechen der Finanzoligarchie genauso an, wie ich es tue. Eine Kehrtwendung! Aber ich fürchte, dass dieser Papst irgendwann ermordet wird. Es würde mich wundern, wenn er friedlich im Bett stürbe. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Den Vatikan als Staat müsste man abschaffen. Diese Eunuchen-Kadinäle in Rom könnten mit ihrem Reichtum morgen früh Millionen Kinderleben retten.

Warum sind Sie als junger Mann eigentlich zum Katholizismus konvertiert? Aufgewachsen sind Sie als protestantischer Hans in einem bürgerlichen Haus in Thun.
Ich wurde Katholik, weil der Marxismus nicht gereicht hat, mein Leben zu verstehen. Mit ihm konnte ich nur die grundsätzliche Verlogenheit des Bürgertums durchschauen.

Sie haben auch mit Ihrem Vater gebrochen. Einer der grössten Fehler Ihres Lebens?
Ja, das stimmt. Mein Vater war ein liebevoller Mensch, ein guter Mann. Er hatte meine Beschimpfungen nicht verdient. Wir haben uns missverstanden. Als ich am Thuner Viehmarkt die Verdingkinder entdeckte, fragte ich ihn: «Wie ist das möglich?» Er sagte mir: «Gott hat das so gewollt, die Welt kannst du nicht verändern, tu redlich deine Pflicht.» Ora et labora. Für mich als 14-Jährigen unannehmbar.

Fühlen Sie sich auch von den Schweizern missverstanden? International werden Sie gefeiert, in der Schweiz sind Sie höchst umstritten. Das muss schmerzen.
(Überlegt lange) Schmerzen würde, wenn Erica mich einen Opportunisten schimpfte, wenn meine Freunde mich der Lüge bezichtigten oder mein Bub mich der Doppelzüngigkeit anklagte. Obwohl: Er sagt immer, ich sei ein primitiver Charakter.

Ihr Sohn sagt: «Papi, du bist primitiv»?
Er sagt Jean! Ich verbitte mir auch das Wort Grandpapa. Primitiv nennt er mich, weil ich mich selbst nicht analysieren würde.

Sind Sie zu wenig reflektiert?
Ja, viel zu wenig. Das muss ich mir eingestehen.

Etwas Psychoanalyse kann da helfen. Waren Sie schon mal auf der Couch? 
Sicher nicht! Psychoanalyse ist pure Herrschaftsideologie, damit man die Leute ruhigstellen kann. Heute macht man es mit chemischen Mitteln, da wird der Widerstand schon im embryonalen Zustand liquidiert. Diesen lasse ich mir sicher nicht wegtherapieren!

Der Unermüdliche

Für den Dokumentarfilm «Der Optimismus des Willens» (jetzt im Kino) begleitete der Westschweizer Filmemacher Nicolas Wadimoff – ein ehemaliger Student Zieglers – den ewigen Revolutionär bei Reden vor Globalisierungskritikern, bei seiner Arbeit für den UN-Menschenrechtsrat in Genf und auf einer Reise nach Kuba. Wadimoff gelingt ein intimer Einblick in Jean Zieglers Wesen.

«Der schmale Grat der Hoffnung»

Im März erscheint zudem Jean Zieglers neues Buch «Der schmale Grat der Hoffnung» bei Bertelsmann. Sein letztes Buch «Ändere die Welt» war ein Bestseller.

Jean Zieglers neues Buch erscheint im März.
Jean Zieglers neues Buch erscheint im März.
ZVG

Für den Dokumentarfilm «Der Optimismus des Willens» (jetzt im Kino) begleitete der Westschweizer Filmemacher Nicolas Wadimoff – ein ehemaliger Student Zieglers – den ewigen Revolutionär bei Reden vor Globalisierungskritikern, bei seiner Arbeit für den UN-Menschenrechtsrat in Genf und auf einer Reise nach Kuba. Wadimoff gelingt ein intimer Einblick in Jean Zieglers Wesen.

«Der schmale Grat der Hoffnung»

Im März erscheint zudem Jean Zieglers neues Buch «Der schmale Grat der Hoffnung» bei Bertelsmann. Sein letztes Buch «Ändere die Welt» war ein Bestseller.

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