Jean Ziegler (85) ist im Herzen ein Klimajugendlicher
«Die Kinder müssen nun das System angreifen»

Jean Ziegler (85) glaubt, dass die Klimajugend schaffen kann, wofür er ein Leben lang gekämpft hat: den Kapitalismus abzuschaffen. Ein Gespräch über Hunger, Eitelkeit und den gewalttätigen Aufstand.
Publiziert: 11.05.2019 um 23:46 Uhr
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Aktualisiert: 13.05.2019 um 08:17 Uhr
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In seinem neusten Buch beantwortet Jean Ziegler Fragen seiner Enkelin zum Kapitalismus.
Foto: Nicolas Righetti
Aline Wüst

Herr Ziegler, haben Ihre fünf Enkel fürs Klima demons­triert?
Und wie! Die drei ältesten sind seit März an jedem Freitag dabei.

Macht Sie das stolz?
Ich bin sehr stolz – und ein bisschen beunruhigt.

Wieso das?
Weil sie nicht in die Schule ­gehen (lacht).

Das Klima mobilisiert die ­Jugend, der Hunger nicht. Macht Sie das wütend?
Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren an Hunger. Diese Welt könnte gemäss Uno zwölf Milliarden Menschen normal ernähren. Also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Ein Kind, das jetzt an Hunger stirbt, wird ermordet.

Das sagen Sie nun schon seit Jahrzehnten ...
… und niemand geht deswegen auf die Strasse. Ein Skandal!

Ist das ein Vorwurf an die Klimajugendlichen?
Nein! Was jetzt passiert, ist grossartig. Hunderttausende junger Menschen gehen jeden Freitag überall in Europa auf die Strasse, greifen ihre Regierungen an, sagen: Ihr tut ja nichts, ihr erlaubt die Zerstörung des Planeten! Wir sind am Anfang einer unglaublichen Bewegung.

Warum gibt es keine Demos gegen den Hunger?
Weil die Klimaerwärmung die Existenz dieser Kinder direkt bedroht.

«System change! Not climate change!», skandiert die ­Jugend. Da geht Ihnen das Herz auf!
Bei der letzten Demo in Genf machten die Jugendlichen Halt vor dem Bunker der Credit ­Suisse an der Place de Cornavin – diese Grossbank finanziert massiv die Erdölindustrie. Eine Schülerin rief ins Megafon: «Noyez les banquiers, pas la banquise» – ersäuft die Banker, nicht das Packeis. Das zeigt die absolute Radikalität dieser Bewegung.

Sie können doch nicht zum Mord an Bankern aufrufen!
Natürlich nicht. Ausgedrückt wird damit der Wille zum radikalen Bruch mit den Geld­säcken, die unsere Welt beherrschen. Bisher richteten sich die meisten Forderungen der Kinder gegen die Regierungen. Nun merken sie, dass diese nichts machen können.

Wieso nicht?
Ein Beispiel: 36 Prozent der ­Autos in Frankreich fahren mit Diesel. Dieselmotoren sind höchst klimaschädigend. Damit etwas passiert, müssten Dieselautos verboten werden. Aber Frankreich hat neun Millionen Arbeitslose. Keine Regierung traut sich, Diesel­fabriken zu schliessen. Es macht keinen Sinn, Regierungen anzugreifen. Sie müssen das System angreifen.

Den Kapitalismus.
Die Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals haben eine Diktatur errichtet, in der auch die grössten Staaten dieser Welt nichts mehr zu sagen haben. Das habe ich in meinem neusten Buch beschrieben, in dem ich Fragen meiner Enkelin zum Kapitalismus beantworte.

Sie sehen sich also als Vordenker der Klima-Jugend?
Natürlich ist jeder Autor ein eitler Typ! Aber so kann man es nicht sagen. Diese Kinder brauchen keine Vordenker. Ich lie­fere bloss Argumente. Mein Buch sollte eine Waffe sein in ihren Händen.

Warum denken Sie das?
Ich sehe, dass meine Argumente gebraucht werden – und ich sage das nicht aus Eitelkeit. Das Buch wird in 14Sprachen übersetzt, ist in Deutschland auf der Bestsellerliste. Dieser Erfolg ist wirklich nur mit den Gelbwesten und der Klima­jugend zu erklären. Das Buch ist ein bisschen wie eine Bibel für die Kinder.

Haben Sie gerade gesagt, dass Ihr Buch die Bibel ist?
(Lacht) Löschen Sie das sofort von Ihrem Aufnahmegerät.

Also ist der Kapitalismus schuld am Klimawandel?
Absolut. Dieses kapitalistische System hat zwar beeindruckendes Können, Dynamik und Kreativität. Aber diese Konzerne entschwinden jeglicher Kon­trolle. Sie funktionieren nach einem einzigen Prinzip: Profitmaximierung in möglichst kurzer Zeit zu jedem menschlichen Preis. Die 500 grössten transkontinentalen Konzerne haben letztes Jahr 52,8 Prozent des Weltbruttosozialprodukts kontrolliert. Sie haben eine Macht, wie sie nie ein König auf diesem Planeten hatte. Es bringt nichts, die Regierungen anzugreifen. Es braucht eine radikale Kapitalismuskritik. Die kommt nun.

Geschieht jetzt, worauf Sie Ihr Leben lang warten?
Ja. Entweder wir zerstören den Kapitalismus, oder er zerstört uns.

Erwarten Sie einen gewalt­tätigen Aufstand?
Die Geschichte lehrt uns, dass Herrschaftsklassen, wie heute die transkontinentale Finanz­oligarchie, nie freiwillig auf ihre Privilegien verzichten. Sie wehren sich bis aufs Blut. Wenn ich auf die Geschichte schaue, scheint es mir unmöglich, dass es anders gehen wird.

Und was soll nach dem 
Kapitalismus kommen?
Das ist das grosse Rätsel. Aber am Morgen des Sturms auf die Bastille wusste auch niemand, welche neue Gesellschaft auf den Ruinen der Monarchie entstehen würde.

Sie leben in den Weinbergen von Genf und reden bei einem Glas Wein über das Ende des Kapitalismus. Das ist widersprüchlich.
Sie machen mir daraus einen Vorwurf! Der ist unbegründet. Ich halte es mit Brecht: «Nur glückliche Revolutionäre sind gute Revolutionäre.»

Sie leben sehr privilegiert, sagen aber immer wieder, dass Sie verarmt seien.
Ich habe ein sehr privilegiertes Leben. Das stimmt. Aber ich habe neun Prozesse von Grossbanken, Finanzhaien und Spekulanten am Hals gehabt. Es ging um Verleumdung und ­Kreditschädigung. Ich wurde zu massivem Schadensersatz verurteilt. Deshalb habe ich nun hohe Schulden.

Hat sich das alles gelohnt?
Natürlich.

Wirklich?
Das ist eine Frage, die man sich nie stellen darf. Ich und auch Sie, wir sind so unglaublich privilegiert. Das Mindeste, was wir tun können, ist, für die zu kämpfen, die keine Stimme haben. Freiheit ist ein Luxusgut auf diesem Planeten. Klar, ich werde beschimpft und bedroht. Aber mit all dem, was ich gesehen habe, könnte ich mich nicht mehr im Spiegel anschauen, wenn ich nur Tennis spielen und Bier trinken würde. Ich glaube, ich bin nicht durch ­Zufall auf dieser Welt.

Der Kommunist glaubt an Gott?
Ja. Wenn ich überzeugt wäre, dass ich einzig das Produkt ­einer durchtanzten Festnacht im Berner Oberland wäre, purer Zufall also, dann würde ich mich aufhängen – das ist ja ­unerträglich. Jedes Leben hat einen Sinn.

Sie sahen Menschen, die ­einen sinnlosen Tod starben.
Ich dachte früher, dass ein Mensch, der den Hungertod stirbt, wie eine Kerze erlischt. Das Gegenteil ist der Fall. Zuerst verbraucht er seine Fett- und Zuckerreserven, dann kommen Infektionen im Metabolismus, dann brechen Immun- und Muskelsystem zusammen. Ich habe im Südsudan und im Jemen Kinder gesehen, die wie kleine Tiere im Staub lagen, weil sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Der Hungertod ist einer der grauenvollsten Tode, die es gibt.

In einem Satz: Was fordern Sie?
Ich will eine Welt ohne Hunger, Ausbeutung und Erniedrigung, dafür braucht es einen Aufstand des Gewissens und die Abschaffung des Kapitalismus.

Und Ihre Hoffnung setzen 
Sie in die Kinder auf der Strasse.
Genau. 

Persönlich

Der emeritierte Soziologie­professor Jean Ziegler (85) ist weltweit einer der bekanntesten Globalisierungskritiker. Er war UN-Sonder­berichterstatter für das Recht auf Nahrung. ­Aktuell ist Ziegler Mitglied des UN-Menschenrechtsrats. Der ehemalige 
SP-Nationalrat schrieb zahl­reiche Bestseller, stand wegen 
seiner Nähe zu Despoten wie Gaddafi oder Mugabe aber auch immer wieder in der ­Kritik. Er wohnt mit seiner 
Frau Erica in Russin GE.

Der emeritierte Soziologie­professor Jean Ziegler (85) ist weltweit einer der bekanntesten Globalisierungskritiker. Er war UN-Sonder­berichterstatter für das Recht auf Nahrung. ­Aktuell ist Ziegler Mitglied des UN-Menschenrechtsrats. Der ehemalige 
SP-Nationalrat schrieb zahl­reiche Bestseller, stand wegen 
seiner Nähe zu Despoten wie Gaddafi oder Mugabe aber auch immer wieder in der ­Kritik. Er wohnt mit seiner 
Frau Erica in Russin GE.

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