Islamexpertin wirft muslimischen Staaten politisches Versagen vor
«Der IS ist ein Teil von uns»

Die Muslime selbst haben die verquere Ideologie des IS mehrheitsfähig gemacht, sagt die muslimische Zürcher Politologin Elham Manea. Sie fordert ein Umdenken der muslimischen Gemeinschaft.
Publiziert: 14.08.2016 um 19:04 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 16:22 Uhr
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Anhänger der Terrororganisation Islamischer Staat mit einer Flagge der Organisation.
Foto: Keystone
Elham Manea*

«Der IS ist ein Teil von uns.» Auf den ersten Blick mag dies eine überraschende Aussage sein. Aber nur auf den ersten Blick.

Vor zwei Jahren war dies der Titel eines Artikels, den Saad bin Tafla al Ajami, der ehemalige Informationsminister von Kuwait, verfasst hat. Er feiert darin nicht etwa den Islamischen Staat und seine Gräueltaten. Vielmehr erinnert er uns Muslime daran, dass der IS das Produkt des etablierten religiösen Diskurses der letzten Jahrzehnte ist – auch wenn sich die Mehrheit der Muslime klar vom IS distanziert.

Der IS, so der ehemalige Minister, «kommt nicht von einem anderen Planeten». Er ist nicht das Produkt des ungläubigen Westens oder eines längst vergangenen Orients. Nein. «Wir können die Wahrheit nicht verleugnen: Der IS hat seine Ideologie in unseren Schulen gelernt, in unseren Moscheen, er hat sein Wissen aus unseren Medien bezogen und ist den Fatwas gefolgt, die wir erlassen haben.» Der Mann hat recht.

Es ist einfach zu sagen, dass der IS nichts mit dem Islam zu tun habe. Doch ich bin überzeugt: Der Islam ist das, was wir Menschen daraus machen. Jede Religion kann die Botschaft der Liebe verbreiten – oder aber blinden Hass, je nachdem, was die Anhänger dieser Religion glauben wollen.

Fakt ist: Den schrecklichen Gräueltaten des IS ist der Weg ideologisch lange bereitet worden. In unseren Moscheen, die in ihren Freitagsgebeten die christlichen Kreuzritter, Juden und Ungläubigen verteufeln. Von religiösen Führern, die uns jeden Tag im TV begegnen und die beständig ihre Botschaft von Hass und Intoleranz gegen die «anderen» verbreiten. In Schulen lernen wir, dass die Abkehr vom Islam mit dem Tod bestraft wird. Dass Christen und Juden dafür bezahlen sollten, wenn sie in Ruhe leben wollen. Niemals wird in diesen Klassen gelehrt, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Religion frei zu wählen. Niemals wird gelehrt, dass jeder Mensch die gleichen Rechte hat, ganz egal, an welchen Gott er glaubt.

Der IS ist auch das Produkt eines politischen Prozesses. Der Aufstieg des politischen Islams begann im Jahr 1973, befeuert durch das Öl der Golfmonarchien und die iranische Revolution 1979. Er ist das Produkt einer politischen Strategie. Staatsführer nutzen den politischen Islam für ihre Zwecke. Sie arbeiten mit Islamistengruppen zusammen, erzwingen so politische Allianzen. Ihr Ziel ist politisch: Sie wollen ihre Herrschaft religiös legitimieren – und die ihrer Gegner entscheidend schwächen. Doch diese macchiavellistische Allianz hat ihren Preis. Als Belohnung für ihre Unterstützung dürfen Islamistengruppen den religiösen Diskurs mit ihrer Ideologie des Hasses, der Ausgrenzung und der Intoleranz dominieren.

Der IS ist deshalb auch das Produkt politischen Versagens. Viele muslimische Staaten sind unfähig, die elementarsten Bedürfnisse ihrer Bürger in den Bereichen Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit zu befriedigen. Islamistengruppen füllen diese Lücke – und verpacken ihre Dienstleistungen in ihre Ideologie des Hasses.

Es hilft nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Es gibt kein Entkommen: Der IS ist ein Teil von uns. Wir haben ihn zu dem gemacht, was er ist. Wir haben seine verquere Ideologie in unseren Schulen, Moscheen und TV-Stationen mehrheitsfähig gemacht. Und trotzdem scheinen wir überrascht, dass der IS das, was gepredigt wurde, wörtlich genommen hat.

Das kann nicht unser Ernst sein!

Wir Muslime müssen unsere Verantwortung anerkennen. Tun wir es nicht, wird sich nichts ändern. Moscheen werden weiterhin jeden Freitag Juden, Christen und Ungläubige verteufeln. Prediger werden den Islam weiterhin grossreden mit ihrer Botschaft der Intoleranz. Schulen werden weiterhin lehren, dass nur die Religion Identität stiften kann.

Hier sollten wir einen Moment innehalten. Wir sollten uns fragen: Wie viele Frauen wurden in letzter Zeit im Namen unserer Religion unterdrückt? Wie viele pakistanische Christen oder Ahmadis wurden angegriffen? Wie viele Kirchen wurden in Indonesien und Nigeria attackiert? Wie viele ägyptische Kopten wurden aus ihren Dörfern vertrieben? Wie viele Sunniten haben Schiiten getötet? Wie viele Schiiten haben Sunniten getötet? Wie viele Bahai wurden im Iran brutal unterdrückt? Und: Wie viele britische Bürger haben sich dem IS angeschlossen?

Natürlich: Es ist einfach, auf die anderen zu zeigen. Aber wenn wir weiterhin die anderen verantwortlich machen, wenn wir weiterhin nichts tun und schweigen, dann sind wir es, und niemand anderer, die zulassen, dass diese Fundamentalisten unsere Religion in Geiselhaft nehmen.

Der IS ist ein Teil von uns. Es ist höchste Zeit, dieser Tatsache ins Gesicht zu schauen.

*Elham Manea (50) ist schweizerisch-jemenitische Doppelbürgerin. Sie lehrt Politikwissenschaft an der Universität Zürich.

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