BLICK: Als der Fall von Abu Ramadan bekannt wurde, der öffentlich für die Vernichtung der Juden und Christen betete – was dachten Sie?
Hansjörg Schmid: Dass es, gerade in Kombination mit dem Sozialhilfemissbrauch, eher ein Einzelfall ist. An dem man aber auch strukturelle Probleme sieht – zum Beispiel, dass Behörden manchmal zu wenig Einblick haben.
Müssten diese härter durchgreifen?
Wenn es zu radikalen Auswüchsen wie hier kommt, müssen sie im Interesse des friedlichen Zusammenlebens unterbunden werden. Umgekehrt ist es aber auch wichtig, dass der Staat im Sinne einer Integrationsförderung die Zusammenarbeit mit Muslimen sucht.
Ist Abu Ramadan tatsächlich ein Einzelfall oder nicht doch die Spitze eines Eisbergs?
Es ist eine relativ kleine Zahl von Moscheen – in Genf, Basel und Winterthur etwa –, bei denen es derartige Probleme gibt. Daneben gibt es Staaten wie Saudi-Arabien oder die Türkei, die politischen Einfluss nehmen wollen. Daher ist es umso wichtiger, dass sich muslimische Gemeinden noch stärker in der Schweiz verwurzeln können.
Schauen die Behörden genau genug hin?
In Neuenburg zum Beispiel gibt es eine Gruppe, die einen breiten Dialog führt. Auch die Polizei ist darin vertreten und es werden regelmässig Moscheen besucht. Wenn die Muslime merken, dass sie als Akteure in der Gesellschaft ernst genommen werden und dass die Öffentlichkeit hinschaut, dann stärkt das diejenigen Kräfte, die Fälle wie den von Abu Ramadan verhindern wollen. Der Staat sollte eine Zusammenarbeit mit muslimischen Gemeinden suchen – in verschiedenen Kantonen gibt es so etwas bereits in Ansätzen.
Sollte der Islam als öffentlich-rechtliche Religion anerkannt werden? Immerhin 32 Prozent der Bevölkerung sind laut der Umfrage des SonntagsBlicks dafür.
Das ist ein umstrittenes Thema. Die Forderung ruft Ängste hervor, die ich auch nachempfinden kann. Dies würde aber sowieso nicht von heute auf morgen geschehen, da noch nicht alle Voraussetzungen dafür gegeben sind.
Das heisst?
Die Organisationsstrukturen des Islams in der Schweiz sind oft noch zu schwach. Je nach Kanton muss eine Vereinigung über eine lange Zeitdauer bestehen, eine gewisse Grösse haben und Anforderungen erfüllen, wie dass das Personal die lokale Landessprache spricht. Sie muss zeigen, dass sie integriert und für die gesamte Gesellschaft nützlich ist. Es braucht Anstrengungen von Seiten der muslimischen Gemeinschaft, um diesen Status zu erlangen.
Wäre es denn aus Ihrer Sicht wünschenswert?
Ich halte es für ein sinnvolles Ziel, da der Staat damit auf der einen Seite Unterstützung leisten müsste, auf der anderen Seite sich die Muslime auf klare Prinzipien verpflichten müssten, was der Sicherheit dient. Aber es ist ein Projekt für die nächsten 20 Jahre. Auf dem Weg dahin ist es wichtig, kleinere Schritte zu tun.
Sehen Sie schon Fortschritte?
Es ist sehr viel in Bewegung: von Genf, wo stark auf Extremismus-Prävention gesetzt wird, bis St. Gallen, wo es eine regelmässige Dialog- und Aktionswoche gibt.
38 Prozent der Bevölkerung empfinden die Muslime in der Schweiz als Bedrohung. Spüren Sie diese Skepsis gegenüber Muslimen auch?
Europaweit wächst die Islam- und allgemein die Fremdenfeindlichkeit. Umgekehrt beobachte ich auch, dass eine Auseinandersetzung mit dem Islam stattfindet. Wir haben eine grosse Nachfrage nach Weiterbildungen auch von Nichtmuslimen, in den Medien wird viel über den Islam diskutiert und informiert. Der Umgang mit dem Islam ist eine der grossen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Es ist ganz normal, dass dieser Prozess konfliktreich ist und Jahre dauert.
Können Sie die Ängste nachvollziehen?
Ja, da noch vieles unbekannt und ungeklärt ist. Aber es ist auch wichtig zu sehen: Die überwiegende Mehrheit der Muslime sind als Arbeitskräfte in die Schweiz gekommen und nicht als religiöse Missionare, und sie haben zum Wohlstand des Landes beigetragen. Es ist eine Tatsache: Unsere Gesellschaft ist vielfältiger geworden. Es gibt heute auch mehr orthodoxe Christen und Hindus sowie mehr Atheisten.
Die Anschläge in London, Paris, Barcelona und so weiter wurden aber im Namen des Islams verübt.
Deshalb sage ich auch: Ich halte Ängste für nachvollziehbar. Es ist aber wichtig, nicht in Hysterie zu verfallen und zu sehen, dass das Zusammenleben in der Schweiz in aller Regel gut funktioniert und sich die grosse Mehrheit der Muslime einen friedlichen Islam wünscht. Diese Kräfte müssen gestärkt werden.
Sehen Sie auch einen Willen zur Integration?
Wir treffen an unseren Weiterbildungen und Tagungen sehr viele Leute und ich habe dabei den Eindruck gewonnen, dass viele Muslime ein patriotisches Gefühl entwickelt haben für dieses Land und als Schweizer und Muslime hier leben wollen. Die Gefahr ist aber, dass sich ein Generalverdacht gegen sie negativ darauf auswirkt. Diese Leute werden irgendwann auch müde, sich immer zu rechtfertigen.
Trotzdem: Es gibt grundsätzliche Bedenken, ob der Islam mit unseren Werten vereinbar ist. Ein hoher indonesischer Muslim hat nach den Anschlägen von Barcelona gesagt, dass Fundamentalismus und Gewalt sehr wohl etwas mit dem Islam zu tun hätten.
Ich sehe den Islam und die Religionen allgemein, auch die christliche, als ambivalent. Sie werden von verschiedenen Akteuren gestaltet. Das Entscheidende ist für mich, wie Muslime Gewaltverse im Koran interpretieren und damit umgehen. Es hilft nichts, Zitate herauszupicken und zu sagen, der Islam an sich sei schlecht.
Aber es gibt die Stelle, in der es heisst, dass man die Ungläubigen vernichten soll.
Richtig. Ich habe mit vielen Muslimen über diese Stelle diskutiert und dabei wurde klar: Erstens muss man den Koran als Ganzes lesen und darf nicht einfach einen Vers aus dem Kontext reissen. Zweitens muss man die Stelle im Kontext der historischen Situation sehen, als es Stammesfehden gab und die Muslime eine Gruppe waren, die in die Enge getrieben wurde. Es wäre verfehlt, dies als eine zeitübergreifende Aufforderung zu verstehen. Und es ist eine Bildungsaufgabe, dass Muslime im Religionsunterricht auch lernen, mit den dunklen Seiten ihrer eigenen Tradition umzugehen.
Das Alte Testament strotzt auch vor Gewalt und Frauenfeindlichkeit. Nur wird das kaum mehr so gelehrt. Imame scheinen die Abgrenzung weniger stark zu machen.
Wir sollten aber nicht aus einer triumphalistischen Haltung sagen: Im Christentum ist alles gut. Gerade in Sachen Gleichstellung der Geschlechter muss man auch der katholischen Kirche kritische Fragen stellen. Zudem war bis in die 1970er-Jahre in der katholischen Kirche umstritten, wie weit man die Bibel historisch-kritisch hinterfragen darf. Es ist eine Chance, wenn Muslime jetzt an europäischen Universitäten kritische Fragen reflektieren können in einer Art, wie es in islamischen Ländern oft nicht möglich ist.
Sollten Imame an Schweizer Universitäten ausgebildet werden? Gemäss unserer Umfrage ist eine klare Mehrheit der Bevölkerung dafür.
Ich denke, es ist wichtig, dass Universitäten auch für Imame ein Angebot machen. Berufspraktische Fragen liegen aber in der Verantwortung der Religionsgemeinschaften. Es braucht hier eine Zusammenarbeit zwischen dem Staat, den Hochschulen und den Muslimen.
Unterrichten Sie auch Imame?
Ja. Wir haben ein Weiterbildungsangebot für Imame und muslimische Vereinsverantwortliche, das Interesse dafür ist sehr gross. Die Arbeit mit Jugendlichen, die Kommunikation mit den staatlichen Stellen oder die Seelsorge sind alles Themen, auf die sie in ihrem Studium in den Herkunftsländern oft nicht vorbereitet wurden.
Sie haben von grossen Herausforderungen gesprochen. Wie optimistisch sind Sie für die Zukunft?
Die Schweiz ist ein sehr vielfältiges Land. Ich glaube, dass hier die Kraft da ist, um Menschen zu integrieren.