Der grosse Philosoph Peter Sloterdijk (69) empfängt uns am Sonntagabend zum Interview in seiner Altstadtwohnung in Karlsruhe (D). Die Wände voller Bücher, die Stimmung aufgeräumt, die Formulierung seiner Sätze wie immer pointiert: Kaum jemand bringt derart prägnant auf den Punkt, was derzeit in der Welt passiert.
SonntagsBLICK: Trump gewählt, Grossbritannien aus der EU, Le Pen mit Wahlchancen: Wieso geschehen derzeit Dinge, die bisher als unmöglich galten?
Peter Sloterdijk: Man sollte nie etwas für unmöglich halten. Weder grosse Männer noch Strukturen schreiben Geschichte, sondern Zufälle. Und diese sind derzeit so bizarr, zahlreich und dumm wie seit je.
Wäre es auch ein dummer Zufall, wenn Europa auseinanderbricht?
Europa verwandelt sich nach der deutschen Wiedervereinigung in ein grosshelvetisches Experiment. Die Nationen haben sich quasi in Kantone verwandelt. Der Kanton Grossbritannien hat sich vom Unterland getrennt – gerade so, wie wenn das Wallis plötzlich autonom würde. Die Nationen der EU können heute nicht mehr wirklich autonom auftreten. Die britische Ausnahme bestätigt die Regel.
Wieso wächst der Widerstand gegen die EU gerade jetzt?
Weil wir extrem verwöhnt und unpolitisch sind. Die Politik hat sich in den Augen vieler Wähler in ein Unterhaltungsprogramm verwandelt. Wird dieses nicht mehr als befriedigend wahrgenommen, wechselt man den Sender.
Es hat ein enormer Verlust von Vertrauen in die politische Elite stattgefunden.
Sobald Politik als Teil der Unterhaltung wahrgenommen wird, geht Vertrauen verloren. Der Unernst sickert in alles ein. Die Kanzlerin agiert wie eine «Tatort»-Kommissarin, die alle paar Wochen einen Fall untersucht. Selten erreicht ein Politiker noch höheres Ansehen. In Deutschland sind derzeit nur der künftige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der Bundesvorsitzende der FDP, Christian Lindner, zu nennen.
Hat die Elite, die politische wie die ökonomische, nicht einfach den Draht zu den normalen Bürgern verloren?
Ich kann mich mit dem Argument der weltfremden Elite seit je her nicht anfreunden. Wo wäre denn in der sozialen Wirklichkeit ein nichtabgehobenes Element zu finden? Ein Herzchirurg ist abgehoben, ein Popstar ist abgehoben, ein Berufsfussballer ist abgehoben, ein Harley-Davidson-Fahrer ist abgehoben, die deutschen Rentner auf Ibiza sind abgehoben, die Lufthansa-Piloten sind abgehoben, unzählige Blogger sind abgehoben, die VW-Manager sind es, die Nerds sind es, die Bayern-Fans sind es, die Kunstsammler sind es, die Chefredaktionen sind es. Was man das Volk nennt, ist ein Patchwork aus Parallelgesellschaften.
Welche Rolle spielt die Bedrohung durch Terror?
Wenn es den Terrorismus nicht gäbe, müsste man ihn erfinden. Es ist die kostengünstigste Möglichkeit, Menschen in grossen Kollektiven zu solidarisieren – obwohl die reale Gefahr durch Terrorismus bei uns ausserordentlich gering ist. In Deutschland starben im vergangenen Jahr zehn Mal mehr Menschen durch Badeunfälle als durch Terror.
Trotzdem fühlen wir uns bedroht.
Das ist ein Effekt aus missglückter Verarbeitung von Nachrichten. Menschen haben keinen angeborenen Sinn für Wahrscheinlichkeiten. Es gibt kein psychologisches Organ, das es uns erlaubt, zwischen Gefahren und Risiken zu unterscheiden. Eine Gefahr erleben wir, wenn wir im Busch einem Löwen begegnen. Gefahr bedeutet eine präsente Bedrohung für Leib und Leben. Ein Risiko jedoch ist die mathematisch ausgedrückte Wahrscheinlichkeit eines Schadens. Wir sind durch alte Muster emotional so programmiert, dass wir Risiko in Gefahr übersetzen – dabei vergrössern wir es im Massstab eins zu einer Million.
Trotzdem fürchten mehr Menschen den Terroristen als den Löwen.
Nicht trotzdem, sondern deswegen. Unsere wirklichen Terroristen heissen Herz-Kreislauf-Probleme, Krebs, Diabetes und Übergewicht. In Deutschland gab es im vergangenen Jahr 925’200 Todesfälle, darunter kaum mehr als 20 Terroropfer. An der verzerrten Wahrnehmung tragen vor allem die Massenmedien die Schuld, sie berichten bereits in lüsterner Erregung über nicht verübte Anschläge. Sie machen aus einem Nicht-Ereignis eine erste Seite!
Stärkt die Angst vor Terror den Zusammenhalt?
Früher waren die Franzosen die Hauptfeinde der Deutschen. Heute fallen die Franzosen als Lieferanten von Feindstress aus. Der Terrorismus dient inzwischen fast überall als Feindersatz. Er ist beliebig formbar, man kann mit ihm fast jede Massnahme rechtfertigen. So gesehen liefert er die ideale Begleitmelodie für postdemokratische Tendenzen.
Den Menschen hier geht es so gut wie nie zuvor – viele meinen trotzdem, es werde ständig alles schlimmer. Was ist los?
Die Menschen von früher verglichen sich nicht direkt mit anderen – sie fügten sich zumeist in den vorgefundenen Stand. Das pseudo-klassenlose Unterhaltungssystem von heute verleitet dazu, dass sich alle ungeschützt direkt mit den glücklichsten, reichsten, schönsten und erfolgreichsten Menschen vergleichen. Zudem machen sich in der Demokratie zahllose Menschen Sorgen, die sich früher nur die Minister machen mussten.
Halten Sie es für gewiss, dass wir auf ewig in Demokratien leben?
Ich glaube nicht an einen globalen Rückfall in die Diktatur. Eine gut eingerichtete moderne Gesellschaft hat Institutionen, die grössere Regressionen verhindern. Allerdings halte ich es für denkbar, dass wir in ein politisches System ohne wirksame Opposition gleiten. Ein solches System nähme Züge von Neo-Autokratie an. Darin kommt es zu einem starken Übergewicht der Exekutive. Solche Tendenzen sehen wir heute ringsum, denken Sie an Polen und Ungarn. Es gibt aber auch Gegenströmungen wie die Antikorruptionsbewegung in Rumänien. Autokratien sind strukturell zu dumm, um ein Land auf Dauer erfolgreich zu führen. Das gilt auch für Erdogans Türkei.
Wie soll sich Europa gegenüber der Türkei verhalten?
Man sieht an Erdogans Politik, wie er das Terrorismus-Argument überdehnt, um die Tendenz zur Ausschaltung von Oppositionen zu verstärken. Europa muss gegen den Export autokratischer Tendenzen einschreiten, das ist evident. Gleichzeitig ist der Kontakt mit der türkischen Zivilgesellschaft zu pflegen. Man muss in längeren Zeiträumen denken. Es könnte ja sein, daß der Spuk in einem Jahrzehnt vorbei ist.
Warum sind auch bei uns viele fasziniert von starken Männern wie Putin und Erdogan?
Vereinfachungen wirken entlastend. Man glaubt, die Welt wieder zu verstehen. Und die Langzeitfolgen der autokratischen Vereinfachung lassen sich für eine Weile verdrängen.
Sie warnen vor dem Zerfall Europas. Die EU war ursprünglich ein Friedensprojekt. Nun stirbt die Generation derer aus, die den Krieg erlebt haben. Was sind die Folgen?
Die EU war nie so sehr ein Friedensprojekt als vielmehr eine Vergemeinschaftung der Schwäche. Die meisten Menschen in Europa halten heute die EU für eine so selbstverständliche Errungenschaft, dass sie sich nicht mehr mit Haut und Haaren für diese einsetzen. Europa umfasst 45 Ethnien, davon sind 28 Länder minus eins in der EU und 17 haben den Euro. Deshalb ist die Aussage von Kanzlerin Merkel, wonach Europa scheitere, wenn der Euro scheitert, purer Nonsens. Der Euro war eine List von Politikern, um die Länder Europas zu grösserer Einheit zu nötigen. Die gemeinsame Realität der 27 und der 45 hat grösseres Gewicht als die Währungsunion.
Der Euro wird verschwinden?
Ich nehme an, er bleibt, doch früher oder später wird es unvermeidlich, die EU neu zu formatieren. Elastische Exitklauseln wären für manche Staaten von Vorteil. Die Italiener pfeifen aus dem letzten Loch. Sie könnten sich leichter erholen, wenn sie nicht in die Zwangsjacke des Euro eingeschnürt wären. Das gesamte Konstrukt ist zu rigide angelegt.
Braucht es mehr Autonomie für die einzelnen Länder?
Ein Europa, das sich so wenig wie möglich aufzwingt, wird das erfolgreichere sein. Je lauter die Stimmen für Erweiterung und Vertiefung aus den Mündern der Brüsseler Offiziellen ertönen, desto grösser wird die Ablehnung in den Populationen. Man sollte daraus die positive Konsequenz ziehen: Europas relative Unpopularität ist ein Zeichen von Normalität. Wirklich fürchten würde ich mich vor einem Europa, das so populär wäre, wie die Brüsseler Herren der Phrasen es wünschten. Gäbe es einen europäischen Gesamtnationalismus, fände ich das bedrohlich. Europa darf kein Imperium werden, es soll ein politisches Patchwork bilden – etwas Grosses, das dennoch kein imperiales Projekt ist!
Wie nehmen Sie US-Präsident Trump wahr?
So, wie er sich zeigt. Und er zeigt sich in allererster Linie als ein Dilettant an der Macht. Das ist das Innovative an seiner Regierung: Normalerweise wählt man nur Menschen in solche Funktionen, von denen man denkt, dass sie es können. Er ist der Erste, der das Amt bekommen hat, weil er es nicht kann.
Halten Sie Trump für gefährlich?
Er ist extrem gefährlich. Er geht an alles mit einer knabenhaften, fast unterhaltsamen Ahnungslosigkeit heran. Das könnte relativ harmlos bleiben, solange er sich nur mit Richtern streitet, Touristen quält und Gelder für Wissenschaft und Umweltschutz streicht. Aber eines Tages könnte er einen Krieg wollen. Er scheint zu glauben, dass man Krieg führen und gewinnen kann, so wie man eine konkurrierende Firma übernimmt. Er hält den externen Krieg für die Konstante der amerikanischen Aussenpolitik. Was im Übrigen korrekt ist: Die USA haben seit 1945 rund 200 Militäreinsätze unternommen und zig Millionen Leben ausgelöscht. Die USA und Europa haben eines gemeinsam: Von diesem Preis der Freiheit wird hier wie dort so gut wie nie geredet.
Peter Sloterdijk (69) ist einer der bedeutendsten Philosophen Deutschlands. Er wurde in Karlsruhe geboren, seine Mutter Deutsche, sein Vater Holländer.
Er studierte in München und Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. Nach diversen Lehrtätigkeiten wurde er 2001 zum Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe berufen.
Sloterdijk ist Verfasser diverser Bücher und Aufsätze. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er unter anderem als Moderator der Sendung «Das Philosophie Quartett» im ZDF bekannt. Sloterdijk wohnt mit seiner Partnerin in Karlsruhe und in der Provence in Südfrankreich.
Peter Sloterdijk (69) ist einer der bedeutendsten Philosophen Deutschlands. Er wurde in Karlsruhe geboren, seine Mutter Deutsche, sein Vater Holländer.
Er studierte in München und Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. Nach diversen Lehrtätigkeiten wurde er 2001 zum Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe berufen.
Sloterdijk ist Verfasser diverser Bücher und Aufsätze. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er unter anderem als Moderator der Sendung «Das Philosophie Quartett» im ZDF bekannt. Sloterdijk wohnt mit seiner Partnerin in Karlsruhe und in der Provence in Südfrankreich.