Die schonungslose Analyse von Schriftsteller Lukas Bärfuss
No Billag bedeutet Anarchie

Die Ideologie der SRG-Gegner gründet auf totalem Misstrauen gegenüber dem Staat. So predigt es der Libertarismus in den USA.
Publiziert: 31.12.2017 um 13:10 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 02:15 Uhr
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Lukas Bärfuss letzte Woche im Patumbah-Park im Zürcher Seefeld.
Foto: Lukas Bärfuss
Lukas Bärfuss

Anfang März entscheiden die Stimmbürger über die Initiative «Zur Abschaffung der Billag-Zwangsgebühren» – doch die Fragen, die dieses Volksbegehren aufwirft, werden die Schweiz das ganze Jahr 2018 und weit darüber hi­naus beschäftigen. Sie werfen ein Schlaglicht auf den Zustand des Landes, seiner Eliten und Institu­tionen.

In ihrem Argumentarium schreiben die Initianten, dass Freiwilligkeit das oberste Prinzip einer freien Gesellschaft sei. Wer dies verkenne, rede der Knechtschaft und der Sklaverei das Wort und stehe ausserhalb des politisch Legitimen.

Das ist natürlich Unfug. Jede staatliche Tätigkeit bedarf eines Zwanges. Es wird immer Menschen geben, die mit einem Gesetz nicht einverstanden sind. Es trotzdem durchzusetzen, ist nur möglich durch die Androhung von Gewalt. Deshalb tragen Polizisten Schusswaffen – um die Beschlüsse der Mehrheit notfalls mit der Waffe zu erzwingen.

Nicht die Notwendigkeit bestimmt darüber, was eine ­demokratische Gesellschaft durchsetzt, es ist allein der Wille der Mehrheit. Dies ist die erste Falle, in die viele – die meisten – der Initiativgegner getappt sind, wenn sie beweisen wollen, warum es gebührenfinanzierte Medien braucht. Die Notwendigkeit der SRG zu beweisen, ist unmöglich. Dasselbe gilt für die Altersvorsorge, die Armee oder die Schule. Ob diese Institutionen gebraucht werden oder nicht, bleibt letztlich Ansichtssache und muss von der Mehrheit, die sie will, nicht bewiesen werden. Sie setzt ihre Meinung einfach durch.

Selbstverständlich liegt darin eine Gefahr. Mehrheitsentscheidungen können die fundamentalen Rechte des Einzelnen verletzen. Deshalb braucht es Grundrechte, die nicht verhandelbar sind. Die Demokratie hat sich Zügel anzulegen. Es gibt verschiedene Schranken, die der totalen Herrschaft der Mehrheit Grenzen setzen, etwa die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit. Doch ohne Zwang funktioniert kein Staat, auch nicht der demokratische.

Woher aber haben die No-Billag-Initianten ihre absurden, gefährlichen Ideen? Von Vordenkern wie Murray Rothbard, James M. Buchanan, Milton Friedman und anderen. Deren Ideologie nennt man Libertarismus. Ihr Kern ist das absolute Eigentumsrecht und ein fundamentales Misstrauen gegenüber jeder staatlichen Ordnung: Jede Massnahme, die Ressourcen verteilt, so ihre Meinung, zentralisiere Wissen und führe über kurz oder lang in den Totalitarismus. Für Friedman war das Äusserste ein Minimalstaat, dessen einzige Aufgabe der Schutz des Eigentums sei. Rothbard lehnte den Staat ganz ab – und mit ihm die Demokratie.

Um sie zu beschreiben, benutzen Libertäre wie er gerne das Bild von den beiden Wölfen und dem ­einen Schaf, die zu dritt über das Abendessen abstimmen. Auch wenn nicht alle so weit gehen wie Rothbard oder Buchanan, besteht bei Libertären eine notorische Nähe zu rechtsextremen Kräften. Milton Friedman besuchte den chilenischen Diktator Augusto Pinochet, in dessen Kerkern Oppositionelle gefoltert und umgebracht wurden. Chile wurde das Experimentierfeld für Friedmans Theo­rien. Pinochet zerstörte den Sozialstaat, privatisierte Schulen, Universitäten und das Gesundheitswesen.

Und Murray Rothbard, den die No-Billag-Initianten gerne zitieren, hielt die USA im ­Vergleich mit Nazi-Deutschland für den grösseren Unrechtsstaat und unterstützte ­offen den Anführer des Ku-Klux-Klans. Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien beschreiben Kon­stanten im libertären Denken. Die rechtsradikalen Umtriebe eines der No-Billag-Initianten, die Bezeichnung von deren Enthüllung als koordinierte Aktion, haben System und sind keine Zufälle.

Immer, wenn die Initianten der Abstimmung vom 4. März behaupten, die Schweiz brauche keine «Staatsmedien», versuchen ihre Gegner zu beweisen, wie falsch dieser Begriff sei. Der Staat nehme keinen Einfluss auf das Programm. In der Absicht, die SRG zu verteidigen, besorgen sie damit allerdings nur das Geschäft der Initianten. Die wollen den Staat delegitimieren und lachen sich ins Fäustchen über das Argument, nur in einem Land wie der Sowjetunion habe es Staatsmedien gegeben, in der Schweiz betreibe niemand Propaganda.

Die SRG verteidigt, was Libertäre hassen

Das ist erstens falsch und zweitens töricht. Denn ohne jeden Zweifel betreibt die SRG Propaganda: Sie steht ein für Wissenschaftlichkeit, für gleiche Rechte von Frau und Mann, für den freien Austausch der Argumente, kurzum: Sie propagiert die Werte der Aufklärung und den freiheitlichen, demokratischen Staat, für den die Schweiz seit ihrer Gründung 1848 steht.
Genau wie die Volksschule, die Universitäten, die öffentlichen Theater und die Bibliotheken verteidigt die SRG jene Ideen, die Libertäre hassen und bekämpfen. Doch statt für diese Werte einzustehen und den Staat und seine Institutionen zu verteidigen, schämt man sich seiner, leugnet ihn – und ist den demokratiefeindlichen Initianten zum zweiten Mal auf den Leim gegangen.

Bleibt die letzte, schwierigste, unangenehmste Frage: Wie kann es sein, dass die Ideologie von libertären Sektierern von der Öffentlichkeit breit diskutiert wird? Wie kann es sein, dass diese Männer (es sind beinahe ausschliesslich Männer) mit ihren antidemokratischen Extremismen zur ideellen Avantgarde wurden und weite Teile bisher bürgerlicher Kreise für sich eingenommen haben? Und wie konnte in der ganzen Diskussion unbemerkt bleiben, dass für diese Männer nicht die Medien der Feind sind, sondern der Staat?

Der Gründe sind mehrere. Sie spiegeln den allgemeinen Zustand dieses Landes, sind grundsätzlicher Natur und betreffen nicht nur den Urnengang im Frühling. Zunächst ist es ein Versagen des öffentlichen Diskurses. In den Vereinigten Staaten, dem Ursprungsland der libertären Bewegung, wird eine rege Auseinandersetzung über die ­ideellen und historischen Wurzeln geführt. Eine wissenschaftliche Analyse ihrer Finanzierung durch den Milliardär Charles G. Koch schaffte es auf die Shortlist des National Book Award. In den führenden Medien, in Blogs und sozialen Netzwerken wird breit und kontrovers jeder Aspekt der ­libertären Bewegung diskutiert. Nichts davon in der Schweiz. Die Namen Rothbard und Buchanan sind hier so gut wie unbekannt geblieben.

Warum untersucht kaum jemand den Hintergrund der Initianten? Dass die öffentlich-rechtlichen Medien davor zurückschrecken, ist verständlich. Jeder Bericht darüber würde als Parteilichkeit ausgelegt. Aber warum unternehmen die privaten Medien nichts?

Manche sind nicht gewillt, weil sie diese extremen Ideen mittlerweile selber unterstützen. Der andere Teil ist schlicht nicht in der Lage. Die Redaktionen wurden unter dem Spardiktat und dem Renditedruck ausgedünnt. Hintergründe ausleuchten, Zusammenhänge aufzeigen aber braucht Zeit, es braucht jenes Geld, das man den Journalisten in den letzten Jahren entzogen und den Aktionären zugeschanzt hat.

«Fundamentalistische Irrläufer spielen mit der öffentlichen Meinung»

Nun sieht man die Resultate. Fundamentalistische Irrläufer spielen mit der öffentlichen Meinung, führen sie an der Nase herum – und kaum jemand ist in der Lage, ihr übles Spiel aufzudecken. Verschärft wird dies durch eine allgemeine Zersplitterung der Gesellschaft. In Zeiten, in denen sich jeder hauptsächlich mit der Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse beschäftigt, verlieren das Gemeinwohl und die Auseinandersetzung darüber, wie es aussehen könnte, an Bindungskraft.

Der wesentliche Grund aber ist der lamentable Zustand jener Kräfte, denen wir die Gründung der modernen Schweiz verdanken. Sie haben ihre Fundamente destabilisiert und die eigenen Positionen untergraben. Mit der neoliberalen Forderung «Mehr Freiheit, weniger Staat» setzt sich jeder bürgerliche Politiker in einen Widerspruch.

Wer den Markt für die einzig mögliche Daseinsform und den Staat als ineffizient und räuberisch begreift, wirkt als Staatsdiener letzten Endes an seiner eigenen Abschaffung mit. Denn wenn der Staat das Übel ist, wie kann man es rechtfertigen, als Politiker für ihn tätig zu sein? Die Folgen dieser neoliberalen Haltung sind verheerend. Ihre letzte Konsequenz ist die Zerschlagung jeder staatlichen ­Institution. Am Ende wartet der Anarchismus – und genau dort ist das bürgerliche Lager, indem es mit den Libertären flirtet, mittlerweile gelandet.

Lukas Bärfuss

Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, ­einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein ­Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.

Der Schweizer Erfolgsautor Lukas Bärfuss.
Der Schweizer Erfolgsautor Lukas Bärfuss.
Philippe Rossier

Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, ­einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein ­Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.

In einem Aufsatz aus dem Jahre 1976 schrieb Murray Rothbard, es gehe darum, den Staat zu delegitimieren und zu entweihen. Geschichtsrevisionismus sei deshalb das Kernanliegen eines jeden Libertären. Wenn man die Schweiz betrachtet, wenn man sieht, wie verwirrt und orientierungslos die bürgerlichen Parteien sind und dass selbst erzbürgerliche Institu­tionen wie die «Neue Zürcher Zeitung» sich gegen den eigenen Staat wenden, wenn man ferner sieht, wie gewisse Milliardäre im Zusammenhang mit dem Jubiläum des Landesstreiks von 1918 offen Geschichtsklitterung betreiben, und wenn man sieht, welche extremen Ideen die Öffentlichkeit diskutiert und dabei die drängenden Probleme ignoriert – dann muss man konstatieren, dass sich Rothbard, dieser verirrte Anarchist, über die Schweiz im Jahre 2018 gefreut ­hätte.

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