Europa streitet. Stein des Anstosses: die Flüchtlinge. Grenzen sollen geschlossen, die Fluchtroute übers Mittelmeer dichtgemacht werden. Angeheizt hat die Stimmung der neue italienische Innenminister Matteo Salvini. Er verbietet seit diesem Monat Rettungsbooten, italienische Häfen anzulaufen – und erhält Applaus. Die Menschen im Mittelmeer retten? Diese Idee unterstützen längst nicht mehr alle Europäer. «Dann kommen noch mehr», sagen viele.
Zeit nach Italien zu fahren. In das Land, das auf politischer Ebene gerade am lautesten schreit, dass es genug hat von den Flüchtlingen. Und wenn schon Italien. Warum nicht gleich nach Pozzallo? Das sizilianische Städtchen, das in den vergangenen Jahren Zehntausende Migranten in seinem Hafen hat ankommen sehen.
Wer verstehen will, wie sehr die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu Pozzallo gehören, muss zum Dottore. Vincenzo Morello ist ein Mann, der viel redet, heftig gestikuliert und oft lacht. Er kommt gerade von der Schulschlussfeier seines Sohnes Giovanni. Ob er auch Medizin studieren will, wie der Papa, weiss der Sohn nicht. Aber zumindest als Kind imitierte Giovanni das Verhalten seines Vaters.
Er nahm das Telefon ab und fragte: «Wie viele sind es, wo seid ihr, wie ist der Zustand der Menschen?» Und der Kapitän am anderen Ende sagte: «Giovanni, nimm Stift und Papier, schreib auf, was ich dir sage und gib es deinem Vater.»
Der Dottore hat schon 150'000 Migranten untersucht
Seit knapp 30 Jahren macht Morello die Erstversorgung der Flüchtlinge an Bord aller Schiffe, die in den Hafen von Pozzallo einlaufen. Etwa 150'000 Migranten hat der Dottore bereits untersucht. Sein Handy ist voller Bilder von diesen Einsätzen. Viele kleine schöne Geschichten von Menschen, denen er das Leben retten konnte. Aber auch Fotos von zweijährigen Kindern, tot.
An Bord dieser Schiffe funktioniere er nur. Sein Ziel: Alle gesund an Land zu bringen. Er könne nicht sinnieren über das, was da passiere. Und abends im Bett? Der Dottore, wird ganz still, sagt bloss: «Dann schon.»
Er erzählt weiter. Davon, dass die Flüchtlinge in einem immer schlechteren gesundheitlichen Zustand in Italien ankommen. Er erzählt von einem jungen Eritreer, der diesen Frühling auf einem Boot war. Der Dottore musste ihn auf dem Rücken tragen, so schwach war er. 1,80 Meter gross und gerade noch 35 Kilo schwer. «Was ist passiert», fragte Morello ihn. Und Tesfalidet Tesfom sagte: «Libya, Papa. Not good. Horrible.» Er starb eineinhalb Tage später. Auf sich trug er ein vollgekritzeltes Papier. Die Pozzallesi liessen es übersetzen. Es waren Gedichte.
Man kann schliesslich nicht allen etwas geben
Einig ist man sich in Pozzallo, dass Sizilien einer der schönste Flecken Italiens ist, ja vielleicht sogar der ganzen Welt. Einig ist man sich auch, dass man die Menschen da draussen retten muss. Was dann an Land mit ihnen geschieht, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Beim Gelati-Essen, beim Aperitivo-Trinken – in vielen Gesprächen fällt irgendwann der Satz: «Ich bin kein Rassist, aber ...»
Die Pozzallesi erzählen von Dingen, die sie im Fernseher sahen. Davon, dass sie es nicht gern sähen, wenn die jungen Afrikaner versuchen, mit ihren Töchtern zu flirten. Was auch viele sagen: Wenn einer kommt und Hunger hat, dann gebe ich ihm etwas zu essen. Wenn zehn kommen und Hunger haben, dann habe ich doch selbst nichts mehr, wenn ich allen gebe. Es sind zu viele. Es ist, was Salvini sagt.
Migranten gibt es in Pozzallo heute wenige. Vier junge Nigerianer sitzen an diesem Nachmittag auf der Bank im Park. Über die anderen Flüchtlinge auf dem Meer wolle er gar nicht nachdenken, sagt der 20-jährige Stanley. Er sei froh, dass er sein Leben retten konnte. Dass er lebend angekommen sei. Nun möchte er ein erfolgreicher Mann werden. Bloss einen Job findet er nicht.
In Pozzallo gelten die Gesetze des Meeres
Der Blick aus dem Fenster des Rathauses von Pozzallo ist spektakulär. Da ist bloss Mittelmeer. Nicht nur anschauen – hineinspringen, empfiehlt Bürgermeister Roberto Ammatuna. Er sitzt in einem Sessel. Sonnenbrille und Smartphone liegen neben ihm.
Pozzallo sei eine Stadt von Seefahrern, sagt er. Und für Seefahrer gebe es neben dem italienischen Recht auch das Gesetz des Meeres: Sei ein Mensch in Not, dürfe ein Seefahrer nicht wegsehen. Er muss ihn retten. Dass die Nordeuropäer die Italiener nun verurteilen, stört ihn. «Wir haben viel gemacht in den vergangenen 15 Jahren. Wir hätten mehr tun können, klar.» Aber die anderen europäischen Staaten würden ihre Hände in Unschuld waschen und wegschauen. Sein Handy vibriert. Es ist das Innenministerium. Ammatuna entschuldigt sich.
Im örtlichen Polizeiposten sitzt Emilie Pluchinotta in ihrem klimatisierten Büro. Sie ist verantwortlich für das Erstaufnahmezentrum im Hafen von Pozzallo. 230 Menschen können dort aufgenommen werden. Momentan ist es leer. Es sind ja kaum mehr Rettungsboote unterwegs und wenn, dürfen sie nicht anlegen. Voll ist dafür das Smartphone der Polizistin. Mit Bildern von Flüchtlingen. Da drinnen im Zentrum hat Emilie Pluchinotta Mütter gesehen, die ihre Köpfe an die Wand schlagen, weil sie ihre Kinder nicht retten konnten auf der Überfahrt.
Oft finden sie nur noch leere Boote
Sie sagt: Diesen Schleppern sei es egal, ob die Flüchtlinge irgendwo ankommen. Sie schickten sie mit Booten raus, mit denen sie keine Chance hätten, die Überfahrt zu schaffen. «Wenn wir sie nicht retten, sterben sie.» 1500 Menschen seien in diesem Jahr beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren bereits gestorben, sagen Hilfsorganisationen. Seit die privaten Rettungsschiffe nicht einmal mehr auslaufen können, sterben noch mehr.
Die Zahl der Toten, da ist man sich in Pozzallo sicher, sei in Wahrheit viel höher. «Wie oft finden wir nur noch leere Boote. Wo sind diese Menschen geblieben?», fragt die Polizistin Emilie Pluchinotta.
Freitagabend um halb zehn. Am Strand findet eine Gedenkveranstaltung statt für die Menschen, die da draussen gestorben sind und für die 40 Migranten, die vor vier Jahren tot am Strand von Pozzallo lagen.
Viele Pozzallesi sind gekommen, um ein Zeichen gegen die Politik von Salvini zu setzen, wie sie sagen.
Auch der Dottore, die Polizistin, der Bürgermeister sind da. Ein Teilnehmer sagt: «Wer jemals gesehen hat, wie diese Flüchtlinge hier ankommen, der will nicht mehr über Zahlen sprechen. Das sind Menschen.» Andere haben Angst vor dem Rassismus, den Salvini mit seiner Politik salonfähig macht. Und einer sagt vorne ins Mikrofon: «Wenn das eure Kinder wären, die da draussen ertrinken. Wolltet ihr nicht, dass alle Schiffe dieser Welt kommen, um sie zu retten?»
Ein Gedicht wird vorgetragen. Es ist das Gedicht, das der junge Eritreer geschrieben hat, der nun hier in Sizilien begraben liegt. Darin heisst es:
Ist es wirklich so schön, alleine zu leben? Deinen Bruder in Zeiten der Not zu vergessen?