Es ist kein Zufall, dass der 40 Jahre junge Jonas Fricker sich bei seinem Vergleich nicht auf den Geschichtsunterricht berief. Und nicht auf ein Buch über den Holocaust. Sondern auf einen Film: Auf «Schindler's List», Steven Spielbergs sehr seriösen, sehr bewegenden, aber dennoch leicht desinfizierten Blick auf den Schrecken von Auschwitz.
«Die Menschen, die dort deportiert wurden, die hatten eine kleine Chance zu überleben», sagte Fricker. Und tatsächlich: Die Frauen, denen der Film folgt, kommen mit dem Leben davon. Happy End inmitten der Hölle. Wenn also der Jungnationalrat sein Wissen über den Mord an den Juden von Hollywood hat, muss man fast Verständnis für ihn haben.
In Vergessenheit geraten
Jonas Fricker ist ein Kind seiner Zeit – unserer Zeit. Die geprägt ist davon, dass die Verbrechen der Nazis in Vergessenheit geraten. In den 80er- und 90er-Jahren wurde viel aufgearbeitet, das zuvor verdrängt worden war – doch seither geht es wieder in die andere Richtung. «Wenn lang die Bilder schon verblassen» hiess ein Dokumentarfilm, in dem Zeitzeugen über das KZ Theresienstadt berichten: Er lief 2005 in den Kinos.
Die Zeugen sind nun fast alle gestorben. Klar, Gedenkstätten wie Yad Vashem in Jerusalem, der Internationale Suchdienst im deutschen Bad Arolsen oder das Holocaust-Museum in Washington leisten mit ihren riesigen Sammlungen von Originaldokumenten und Aufzeichnungen Enormes gegen das Vergessen. Selbst Steven Spielberg sammelte mit seiner Schoah-Stiftung über 50'000 Zeugenberichte. Letzte Interviews mit den letzten Überlebenden.
Doch nun liegt der Weltkrieg schon fünf oder sechs Generationen zurück. Die Nazis sind heute Staffage, Halloween-Figuren und billige Argumente in vergifteten Diskussionen. Die herhalten müssen für alles Missliebige – auf allen politischen Seiten.
Karikatur des Schreckens
Zur Linken ist dann plötzlich Donald Trumps Sieg dasselbe wie Adolf Hitlers Machtergreifung, die deutsche AfD ist die heutige Variante von Hitlers NSDAP, die Pegida-Demos sind wie SA-Fackelmärsche. Und unter gewissen Tierfreunden sind Tierfabriken so schlimm wie KZ.
Zur Rechten werden die Nazis heute kurzerhand zu Linken erklärt (sie hiessen ja «National-Sozialisten»). Und plötzlich ist politische Korrektheit dasselbe wie eine Nazi-Bücherverbrennung, staatliche Investitionen sind so schlimm wie Hitlers Rüstungsprogramm, und Kritik an Israel ist genau dasselbe wie die Hetze im Dritten Reich.
So geht die Erinnerung an den realen Schrecken verloren und wird ersetzt durch eine Karikatur. Vielfältig anwendbar für alles, was man gerade angreifen will. Bis man vergisst, dass ein Unrecht nicht unrechter wird, wenn man es mit dem grössten Verbrechen der Geschichte vergleicht.