Der Tessin leidet unter Grenzgängern und Dumpinglöhnen
Ein Kanton hart am Rand

Das Tessin leidet unter Lohndumping und Grenzgängern. Doch ökonomisch geht es dem Kanton eigentlich gut. Das verschärft die Spannungen zwischen Wirtschaft und Bevölkerung.
Publiziert: 22.06.2017 um 09:25 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 15:47 Uhr
Tausende Italiener überqueren täglich die Schweizer Grenze, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen.
Foto: FRANCESCA AGOSTA
Sermîn Faki

Mittwochabend, 17.30 Uhr, Mendrisio TI. Die Sonne brennt erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel, es ist heiss. Auf der A2 gen Süden staut sich der Feierabendverkehr – die «frontalieri» fahren nach Hause Richtung Mailand (I). Ein alltägliches Schauspiel der Grenzgänger mit dazugehörigem Smog. Gemeinderat Marco Romano steht auf einer Brücke über der Autobahn und ärgert sich. «In Bern negiert man, dass wir hier besondere Probleme haben», sagt der CVP-Nationalrat. 

Es sind vor allem wirtschaftliche Probleme – und deren Ursache liege im kriselnden Italien, heisst es unisono zwischen Airolo TI und Mendrisio. Eine halbe Million norditalienischer Arbeitsloser dränge auf den Tessiner Arbeitsmarkt und mache die Löhne kaputt.

Legales Dumping

In der Baubranche etwa – obwohl es einen Mindestlohn gibt. Doch der werde umgangen: Durch die Personenfreizügigkeit kämen Italiener als Selbständigerwerbende zu tieferen Preisen, sagt Gian-Luca Lardi, Präsident des Schweizer Baumeisterverbands. Das Ergebnis seien «Dumpingpreise in voller Legalität».

Das Lohndumping ist nicht mehr nur auf die «padronisti» im Baugewerbe beschränkt, sondern hat auch Teile des Dienstleistungssektors erfasst. Und da es sich mit einem Tessiner Lohn in Italien gut leben lässt – zumal er dort nicht versteuert wird –, sind fast alle Grenzgänger. Die in der Rushhour die Strassen verstopfen, wie jeden Tag in Mendrisio.

Gian-Luca Lardi, Präsident des Schweizer Baumeisterverbands.
Foto: PETER SCHNEIDER

Ein Tessiner Bundesrat könne das ändern, hofft Bauunternehmer Lardi: «Es ist die richtige Gelegenheit. Umso mehr, als die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen das auch erfordern.»

Der Wirtschaft geht es gut

Nur Probleme in der Sonnenstube also? Mitnichten, sagt Luca Albertoni, Direktor der kantonalen Handelskammer. «Der Tessiner Wirtschaft geht es trotz einiger Probleme gut, auch wenn die Tessiner Politiker gern etwas anderes behaupten», sagt er beim Mittagessen im Luganeser Geschäftsquartier und zählt auf: «Die Arbeitslosenquote ist auf einem historischen Tief von 3,1 Prozent und liegt damit im Schweizer Durchschnitt. Auch das Wachstum und die Steuererträge stimmen.»

Ringier Infografics
Foto: Blick

Das Tessin sei nicht Zürich, aber den Vergleich mit allen anderen Regionen brauche es nicht zu scheuen. Auch wenn der Finanzplatz gelitten hat: Andere Branchen wie Pharma, Maschinenbau, Mode sind vital. Zugelegt hat der Rohstoffhandel – beim Stahl ist das Tessin weltweit führend.

Die Wirtschaft ist hier ein Feindbild

CVP-Nationalrat Romano überzeugt das nicht. «Die gelebte Realität lässt sich nicht in Zahlen messen», sagt er. Mit jedem Tag verschärften sich Lohndruck, Arbeitsbedingungen, soziale Probleme. «Hier drohen italienische Verhältnisse», warnt er. Das werde zu einem Crash zwischen Wirtschaft und Bevölkerung führen.

Albertoni will weder die grössere Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt noch den Lohndruck wegreden, gibt aber zu bedenken, dass Letzterer vor allem die Einsteigerlöhne betreffe. Doch mit solchen Aussagen macht man sich im Tessin keine Freunde. Wo es in der Deutschschweiz eine schleichende Entfremdung von Wirtschaft und Bevölkerung gibt, ist die Wirtschaft im Tessin das Feindbild schlechthin.

«Das Nörgeln muss ein Ende haben»

«Es gibt eine gefährliche Kluft zwischen der wirtschaftlichen Realität und dem Empfinden der Bevölkerung», sagt Albertoni. Leider habe sich die Politik darauf geeinigt, eher dem Volk nach dem Mund zu reden. Er fordert ein Umdenken: «Das Nörgeln muss ein Ende haben. Aus wirtschaftlicher Sicht ist ein allgemeiner Sonderstatus für das Tessin absurd.»

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